Projekt «Armut-Identität-Gesellschaft»

Projekt “Armut-Identität-Gesellschaft”: Rückblick auf die erste Wissenswerkstatt

von Annelise Oeschger, Moderatorin einer Peer-Gruppe an der Wissenswerkstatt und Mitglied der Steuergruppe des Projekts

Rückblick auf die erste Wissenswerkstatt

Im Rahmen des Projekts „Armut – Identität – Gesellschaft“ fand am 22. und 23. November 2019 in Treyvaux die 1. Wissenswerkstatt statt. Daran teil nahmen 21 Personen aus der deutschsprachigen und 19 aus der französischsprachigen Schweiz. Das Besondere war, dass diese 40 Menschen sehr verschiedene Erfahrungen hatten und sich zum Grossteil auch noch nicht persönlich kannten. Nun sollten sie zusammen ein Wissen erarbeiten, das hilft, das Verhältnis zwischen Institutionen und Menschen in Armut besser zu verstehen. Ein erster Schritt hin zum Ziel des drei Jahre dauernden Projekts: Dazu beitragen, dass sich die Armut nicht mehr von Generation zu Generation wiederholt, in keiner Gemeinde, in keinem Kanton.

Wissen „kreuzen“

Wie kann man überhaupt erreichen, dass Menschen mit direkter Armutserfahrung, Wissenschaftlerinnen und Praktiker in Sozialdiensten, Gerichten, Vereinen, Ärzte, Lehrerinnen usw. die gleichen Vorstellungen haben, wenn sie von Armut und von Institutionen sprechen? Der Nachmittag des 1. Tages diente dazu, sich seiner Vorstellungen bewusst zu werden: Armut mit einem einzigen Wort bezeichnen, den Begriff Institution mit einem einzigen Foto ausdrücken – das waren die beiden Aufgaben, die die drei Wissensgruppen (Erfahrungswissen – Praxiswissen – Forschungswissen), sogenannte Peer-Gruppen, zuerst jede für sich bearbeiteten.

Ko-Forschung und Differenzen

Dann tauschten sich die drei Gruppen aus. Dieses „Kreuzen“ der drei Arten von Wissen machte die Teilnehmenden alle zu Ko-Forschenden. In gewissen Vorstellungen von Armut, wie z.B. der „Ausgrenzung“, fanden sich alle wieder. Aber es ist der Gruppe der armutsbetroffenen Menschen aufgefallen, dass sie die einzige Gruppe war, die davon sprach, dass Armut «eine extreme Anstrengung, ein körperlich und geistig unglaublicher Aufwand ist, wieder auf die Beine zu kommen». Eine bedenkenswert Erkenntnis, wenn man an die aktuellen politischen Bestrebungen in mehreren Kantonen denkt, durch Kürzungen von Hilfen die «Motivation» der Betroffenen zu «fördern» (vgl. Artikel „Und wenn sich die Geschichte nicht wiederholen würde?“). Zum Thema „Institution“ gab es eine enorme Fülle von Aussagen – ein Spiegelbild dessen, dass es für alle Beteiligten sehr schwierig ist, nicht nur sich darin zurechtzufinden, sondern auch sich vorzustellen, wie die Institutionen ausgestaltet sein müssten, damit sie ihrem jeweiligen Auftrag gerecht würden. Und: welchem Auftrag? Wer bestimmt ihn oder wird ihn neu bestimmen?

Viele der Teilnehmenden verbrachten den Abend und die Nacht in Treyvaux – umsorgt von vielen freiwilligen Helferinnen und Helfern, dank denen das Haus der Vierten Welt in der Schweiz lebt.

Perspektivenwechsel

Die Aufgabe des 2. Tages war, zwei Erfahrungsberichte zu analysieren. Einer war von einer armutsbetroffenen Person geschrieben, der andere von einer Person aus der Praxis. Die Peer-Gruppen hatten zweimal eine Stunde Zeit für die Analyse und die Diskussion darüber, nach welchen Logiken die einzelnen Akteure – armutsbetroffene Personen in einer konkreten Situation, PraktikerInnen, die darin involviert waren, und die Institutionen, in denen sie arbeiteten – sprachen und handelten bzw. Handeln vorschrieben.

Fazit der ersten Wissenswerkstatt

Der Austausch im Plenum zeigte, wie unerlässlich es ist, dass Personen von den drei Warten ihre Analysen zusammen besprechen und vertiefen. Laut Duden bezeichnete eine „Warte“ im Mittelalter einen zu einer Burg oder einer Befestigungsanlage gehörenden Turm der „zur Beobachtung des umliegenden Geländes“ oder auch „als Zufluchtsstätte“ genutzt wurde. Der Begriff widerspiegelt das Resultat dieses ersten Austausches zum Thema sehr gut. Die unausgewogenen Machtverhältnisse, wobei es ja gerade auch um Ohn-Macht geht, das Taktieren und das Sich-Abschotten wurden häufig und von den verschiedenen Gruppen in ihrem jeweiligen Kontext erwähnt. Jedoch erwähnten sie auch das Ausbrechen aus den vorgesehenen Strukturen, um eine Lösung zu suchen und manchmal auch zu finden.

Thema der nächsten Wissenswerkstatt

Zum Abschluss der Tagung trafen sich alle Teilnehmenden nochmals. Dabei stellten sie fest, dass die Schwerpunkte in den Sprachgruppen zum Teil anders gesetzt worden waren.

Die Begleitgruppe, der die ModeratorInnen und VertreterInnen der Peer-Gruppen beider Sprachen sowie die Mitglieder der Steuergruppe angehören, hat nun die Aufgabe, die Hauptfragestellungen herauszuarbeiten und das Thema für die nächste Wissenswerkstatt im November 2020 zu skizzieren.

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