Forschungsbericht Projekt «Armut-Identität-Gesellschaft»

Forschungsbericht „Beziehungen zwischen Institutionen, der Gesellschaft und Menschen in Armut in der Schweiz: eine Gewalterfahrung, die weitergeht“ (ATD Vierte Welt, 2023)

Der Forschungsbericht «Beziehungen zwischen Institutionen, der Gesellschaft und Menschen in Armut in der Schweiz: eine Gewalterfahrung die weitergeht» (ATD Vierte Welt, 2023) ist das Ergebnis des Projekts „Armut – Identität – Gesellschaft“ (AIG), das die Bewegung ATD Vierte Welt von 2019 bis 2023 durchgeführt hat. Mit der Methode des “Wissen-Kreuzens“ (fr. „Croisement des savoirs“) haben Menschen mit Armutserfahrung (von denen die Hälfte in erster oder zweiter Generation einen Bezug zu den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen vor 1981 hat), aus der Berufspraxis und aus der Wissenschaft gemeinsam erarbeitet, was es heute in der Schweiz bedeutet, in Armut und Abhängigkeit von Unterstützung zu leben, und wie sich die Verbindung zwischen Fürsorge und Zwang bis heute weiterentwickelt hat.

Entstanden ist das Forschungsprojekt aus der Überzeugung heraus, dass der institutionellen Gewalt und Schutzlosigkeit ein Ende gesetzt werden muss. Dies umso mehr als der Bund diese Gewalt und Schutzlosigkeit 2013 im Zusammenhang mit den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen vor 1981 anerkannt hat. Mit dem vom Bundesamt für Justiz unterstützten Projekt wurde ein kollektives Wissen erarbeitet, das die Beziehungen zwischen Gesellschaft, Institutionen und Menschen in Armut beleuchtet und Ansätze aufzeigt, wie notwendige Veränderungen möglich sind.

Erkenntisse

Im dreijährigen Projekt des Wissen-Kreuzens ging es darum, „das Verhältnis zwischen Gesellschaft, Institutionen und Menschen in Armut besser zu verstehen um daraus Schlüsse zu ziehen […]“ Die wichtigsten, in einem Prozesse des «Co-Schreibens» erarbeiteten Erkenntnisse aus diesem Prozess sind hier kurz dargestellt. Der Schwerpunkt liegt beim Ausleuchten der Mechanismen, die in den genannten Beziehungen eine Rolle spielen (Punkte 1 bis 3) sowie bei deren Wirkung auf das Fortbestehen der Armut von Generation zu Generation (Punkt 4).

Die Erkenntnisse verdeutlichen, dass weiterhin ein Grossteil der Gesellschaft der Realität von Armut in der Schweiz mit Unverständnis begegnet und diese ausblendet. Die Rechte und die Handlungsmöglichkeiten der Menschen in Armut werden oft weiterhin ohne rechtliche Grundlage eingeschränkt. Damit einher geht eine einengende administrative Kontrolle bei der Ausrichtung sozialer Leistungen ebenso wie bei der Durchführung von Massnahmen des Kindes- und Erwachsenenschutzes.

An der Ausarbeitung der Gesetze sind armutsbetroffene Menschen nicht beteiligt; Regeln werden in Unkenntnis der Lebensrealitäten von Menschen in Armut geschaffen. Mangelndes Wissen führt zu einem Rückgriff auf Stereotypen und zu einem negativen Bild von armutsbetroffenen Personen. Armut wird weiterhin als zumeist selbstverschuldet interpretiert. Auch wenn die Autonomie armutsbetroffener Menschen ein breit anerkanntes Ziel zu sein scheint, machen die gegenwärtigen Bedingungen dieses Ziel oft unerreichbar. Zurückzuführen ist dies auf ein latentes Missverständnis in Bezug auf die Begriffe Selbstbestimmung und Eigenverantwortung. Die Institutionen erwarten, dass sich die Menschen „angepasst“ verhalten. In ihren Beziehungen zu Institutionen wird Menschen, die in Armut leben, sehr oft die Kontrolle über ihr Leben beschnitten oder entzogen. Es ist für sie schwierig, sie selbst zu sein und sie werden kaum als vollwertige Personen angesehen, die das Recht auf eigene Ambitionen und Träume haben. In Armut zu leben bedeutet, unablässig kämpfen zu müssen, was die Menschen zermürbt und oft auch traumatisiert. Die Anstrengungen und Ressourcen der von Armut betroffenen Menschen werden grösstenteils unterschätzt oder gar nicht erkannt.

Die Schweiz hat eine lange Geschichte der Verwaltung von Armut, und in einer Leistungsgesellschaft wird die Armut meist individualisiert. In diesem Kontext bleibt die generationenübergreifende Armut ein weithin unerkanntes strukturelles Problem. Mit der Methode des Wissen-Kreuzens ist es nun sichtbarer gemacht worden.

Ansätze für Veränderungen

In Zusammenarbeit mit Fachleuten, welche vorher nicht an der Forschungsarbeit beteiligt waren wurden die co-geschriebenen Ergebnisse zur Diskussion gestellt und gemeinsam Ansätze für Veränderungen gesucht, die dem Projektziel entsprechen und dazu beitragen, „[…] dass sich Armut nicht mehr von Generation zu Generation wiederholt“. Die zwölf in diesem Rahmen durchgeführten Dialoge haben es ermöglicht, drei Grundpfeiler für Veränderungen – Grundlagen, die für alle Handlungen wesentlich sind – und vier Handlungsfelder, in denen Veränderungen stattfinden müssen, zu entwickeln.

Mehr Informationen:

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Kolloquium «Endlosschlaufe Armut: welche Verantwortung für unsere Gesellschaft?»
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