Neue Ansätze in der Berufsbildung
Caroline Reynaud und Sophie Guerry beim Kolloquium „Endlosschlaufe Armut: welche Verantwortung für unsere Gesellschaft?“, 9. Mai 2023, Bern
Die Ausbildung zur Sozialarbeiterin und zum Sozialarbeiter stützt sich und basiert immer noch weitgehend auf wissenschaftlich akademischen Erkenntnissen und dem professionellen diesbezüglichen Berufsbereich. Sie steckt jedoch, in Bezug auf die Aufarbeitung und Erschliessung des Erfahrungswissens der von Armut selbst Betroffenen, immer noch am Anfang. Zwar ist es üblich, einzelne Erfahrungsberichte in die Ausbildung einzubeziehen. Aber es ist vergleichsweise selten, dass dem Erfahrungswissen der Betroffenen seinen folgerichtigen wesentlichen Platz eingeräumt wird, was eine echte Auseinandersetzung mit den bisherigen Erkenntnissen und eine effektive gemeinsame Aufarbeitung ermöglichen würde.
Warum ist das so? Es geht hier um die Hierarchisierung des Wissens, die zur Folge hat, dass wissenschaftliches und professionelles Wissen höher bewertet wird als andere Erkenntnisse, welche nicht als gleichwertig angesehen werden. Indem wir Disziplinen des Erfahrungswissens in die Ausbildungslehrpläne aufnehmen, werden die Ausbildungen neu konzipiert werden müssen. Das wird eine fundamentale Veränderung der Denkweise und Kultur in den betreffenden Gebieten zur Folge haben.
Und dennoch…
Die Projektstudie „Armut – Identität – Gesellschaft“ hat die Unabdingbarkeit einwandfrei bestätigt, Erfahrungswissen einzubeziehen, um das Phänomen der Armut zu verstehen und anzugehen. Diese Studie hat uns ebenfalls gezeigt, dass es möglich ist, verschiedene wissenschaftliche Disziplinen miteinander zu verknüpfen, ohne jene akademischen Machtkämpfe auszulösen, die innerhalb und zwischen Institutionen oft ausgetragen werden.
Wir erlebten ebenfalls, dass die Wirkung eines auf diese Weise konzipierten Projektes, vor allem in Bezug auf die Veränderung der Beziehung und des Umgangs der verschiedenen Beteiligten untereinander, bedeutsam ist.
Die Erfahrung dieses Wissen-Kreuzens hat die Einstellung der Teilnehmenden verändert. Wir haben viel gelernt:
bestimmte Überzeugungen hinter uns zu lassen – uns selbst in Frage zu stellen. Wir haben gelernt, wie man einen wissenschaftlichen Dialog führt, mit Personen, die die entsprechenden Bereiche verschieden beurteilen, indem wir bereit sind loszulassen und andere Prioritäten zu akzeptieren als nur die der wissenschaftlich begründeten Auseinandersetzung.
Im Laufe des Projektes sind wertvolle Verbindungen zwischen den RepräsentantInnen der verschiedenen Disziplinen zustande gekommen. Heute haben wir den Eindruck, es sei ein Kollektiv entstanden, das sich für diesen Ansatz in der wissenschaftlichen Arbeit (auch in der Schweiz) engagieren wird.
Was wir uns wünschen…
Das Projekt ermutigt uns, innovativ zu sein und diese Arbeitsmethoden weiterzuentwickeln. Was wir in Zusammenarbeit mit ATD Vierte Welt an unserer Schule tun wollen ist innovativ – und vom Anspruch getragen, es weiten Kreisen zugänglich zu machen:
- indem Personen mit Armutserfahrung in der Ausbildung und Forschung zur Sozialarbeit langfristig und als Kollektiv, mitwirken;
- mit Weiterbildungen für von Armut Betroffene und die Entwicklung von Wissensbereichen, in denen sie ihre Erfahrungen einbringen können, um als offizielle Referentinnen und Referenten in der Ausbildung für Sozialarbeit zugelassen zu werden;
- indem wir den Studierenden der Fachhochschulen die Möglichkeit bieten, mit Betroffenen in verschiedenen Projekten zusammenzuarbeiten (zur Bewusstmachung der Studierenden der Notwendigkeit dieser Zusammenarbeit, um die Interventionen der Sozialarbeit zu optimieren)
- durch die Verbreitung dieser Methodik des Wissen-Kreuzens bei einem vielfältigen Publikum und bei der Entwicklung in Zusammenarbeit mit ATD Vierte Welt einer Weiterbildung für Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter.
Caroline Reynaud und Sophie Guerry, assoziierte Professorinnen
an der Fachhochschule für Soziale Arbeit Freiburg
Übersetzung von Susanne Privitera