Die Ungerechtigkeit hängt mit dem Wissen zusammen (2. Teil)

Zeichnung: Davonfliegen, gegen Wind und Gezeiten von François Jomini, 1988 © François Jomini, ATD Quart Monde.

Der Artikel, den die Septemberausgabe 2023 von Informationen ATD Vierte Welt dem Thema „Ungerechtigkeit hängt mit dem Wissen zusammen“ widmet, befasst sich mit jenen fünf Aspekten, in denen sich eben diese Ungerechtigkeit vor allem manifestiert. Die von 2019 bis 2022 entstandene Forschungsarbeit mit dem Titel „Die soziale Persönlichkeit gemeinsam denken mit Joseph Wresinski“ wurde im Rahmen von Wissen-Kreuzen von Philosophen, ständigen VolontärInnen, ATD Vierte Welt Verbündeten und von Armut betroffenen Menschen in Zusammenarbeit durchgeführt. Diese Forschung hat Ursachen und Auswirkungen von Armut identifiziert und erklärt. Die Ursachen und die damit verbundenen Folgen sind zahlreich und komplex. Im vorliegenden Artikel befassen wir uns mit einigen der wesentlichen Erkenntnisse.1

Die Folgen der Ungerechtigkeit aufgrund des Wissens

Einer der Aspekte, die das menschliche Wesen ausmachen, ist die Fähigkeit zu denken. Wenn diese Tatsache nicht respektiert wird – wenn Menschen in Armut für unintelligent, ungebildet, unwert gehalten werden, wird ihnen ihre Menschlichkeit abgesprochen. Dies führt dazu, dass sie als nur im Überleben begriffen werden, ihre Identität verlieren und ihre Position in der Gesellschaft nicht anerkannt wird. Und diese Herabwürdigung ihrer Existenz wird bestimmend für ihre Selbstwahrnehmung.

Die Erfahrung der Ungerechtigkeit aufgrund der vermuteten Inkompetenz zeigt sich in verschiedenen Emotionen – allen voran in der Scham, aber auch der Angst, der Demütigung, der Minderwertigkeit und in der Wut. Die betroffene Person fühlt sich machtlos und verzweifelt, sich kein Gehör verschaffen zu können. Sie wird den Grund, dass sie nicht gehört wird, bei sich selbst suchen, und das wird ihr Gefühl der Machtlosigkeit noch verschlimmern.

Die Gefühle, die diese Ungerechtigkeit hervorruft, sind nicht alle lähmend oder destruktiv. Sie können auch eine Quelle unserer Erfahrung und Handlungsfähigkeit sein: Sie können aufdecken, dass etwas in der jeweiligen Situation nicht stimmt und, dass das ungerecht ist. So können wir Wut empfinden, die uns diese moralisch untragbare Situation vor Augen führt. Und diese Wut kann den tiefen Wunsch in uns nähren, die Situation zu verändern, um die eigene Würde als denkendes Individuum zu verteidigen.

Die Ungerechtigkeit aufgrund des Wissens hat gleichermassen Rückwirkungen auf die Herrschenden. Denn sie erzeugt Unkenntnis bei den Machthabenden, die sie begehen. Indem sie das Wissen der Mitglieder bestimmter Gruppen geringschätzen, berauben sie sich selbst der Möglichkeit, fundiertes Wissen über soziale Zusammenhänge zu erlangen. Ihr Wissen ist somit mangelhaft. Als Privilegierte ignorieren sie ihre Ignoranz, was diese besonders verfestigt und die darum schwer zu bekämpfen ist. Und diese Ignoranz nährt die sogenannten „epistemischen2 Laster“, jene Denk- und Verhaltensweisen, die den Erwerb, die Produktion und die Weitergabe von Wissen behindern.

Epistemische Laster zählen wir deren fünf:

  • die Arroganz der Wissenden, die darin besteht, davon auszugehen, alles zu wissen und immer recht zu haben;
  • die Bequemlichkeit der Wissenden, die sich im Fehlen von Interesse und Wachsamkeit für die sozialen Zusammenhänge manifestiert;
  • die geistige Begrenztheit, die sich darin zeigt, sich vor Tatsachen zu verschliessen, deren Anerkennung die innere Sicherheit und soziale Stellung bedrohen würde;
  • die Gewissheit über den eigenen Erfolg, die Menschen demonstrieren, deren Projekte nicht chancenlos sind oder immer wieder verunmöglicht werden durch ihre Lebensumstände – diese selbstverständliche Gewissheit kann sich noch zu einer Form des Misstrauens gegenüber jenen verstärken, die die Chancengleichheit nie erfahren haben; diese Selbstsicherheit kann mit einer Form der Verachtung gegenüber Menschen, die nicht so viel Glück hatten, gepaart sein, mit Schwierigkeiten, sich mit ihrer Unsicherheit abzufinden, und mit der Unfähigkeit, ihr Wissen zu berücksichtigen;
  • der epistemische Egoismus, der darin besteht, die eigenen Kenntnisse nicht zu teilen und ebenso im Bestreben, die Andern im Unwissen zu lassen, um die eigene dominierende Position zu festigen.3

Die Gründe der Ungerechtigkeit in Bezug auf das Wissen

Die „epistemischen Laster“ sind der Nährboden für Stereotypen, denn Stereotypen können einer Gruppe positiv bewertete Eigenschaften zuschreiben, oder – im Gegenteil – die Andern mit negativ bewerteten Merkmalen charakterisieren. Im Fall der Armut sind diese Stereotypen überwiegend negativ: Die Armut wird oft mit verminderter Intelligenz und weniger Fähigkeiten oder sogar mit Faulheit oder Unverantwortlichkeit in Verbindung gebracht. Man hört sogar, SozialbezügerInnen seien „Parasiten“, Menschen, die nichts anderes im Sinne hätten, als, von der, den Wohlstand erarbeitenden, Allgemeinheit, zu profitieren – und das, zum Nachteil aller. Man hört auch, dass diejenigen, die arbeiten wollten, „nur die Strasse zu überqueren brauchen“, was suggerieren soll, dass Arbeitslosigkeit das Ergebnis einer bewussten Entscheidung oder fehlender Motivation sei. Andere Diskurse verbinden sozialen Erfolg mit Intelligenz, Einsatzbereitschaft und Eigeninitiative, sie vermitteln so die Auffassung, dass man gar nicht bedürftig sein könne, wenn man intelligent, zielstrebig und motiviert sei.

Diese Debatten haben zwei Auswirkungen. Zum einen  wird Armut naturalisiert. Das bedeutet, sie erscheint als eine Auswirkung von Merkmalen, die von „Natur“ aus den Armen eigen sind. Armut wird dadurch nicht als eine Auswirkung der existierenden Gesellschaftsordnung wahrgenommen, dass sie eine Folge der sozialen und politischen Organisation eben dieser Gesellschaft ist: „Wer arm ist, hat nichts anderes verdient, sie haben sich nicht darum bemüht, ihre Situation zu verändern oder sie haben ganz einfach nicht die Fähigkeit dazu, ihre Situation zu verbessern“. Diese Diskurse verlagern die Verantwortung für die Armut von der Gesellschaft auf die Menschen, die in Armut leben. Zweitens wird Armut moralisiert, als sei Armut das Ergebnis eines moralischen Versagens, eines Lasters. Sie werden als unwürdig, unfähig und verantwortungslos dargestellt, wodurch ein zutiefst abwertendes Bild von ihnen gezeichnet wird.

Dieses Bild ist in der Gesellschaft verbreitet, ohne dass sich ihre Mitglieder dessen immer bewusst sind.

Denn die meisten Bürgerinnen und Bürger vertreten einen egalitären Diskurs, der besagt, dass wir alle gleich seien. Das heisst jedoch nicht, dass das negative Bild von Menschen, die von Armut betroffen sind, nicht vorhanden und wirksam ist.  Die Macht von Stereotypen liegt auch darin, dass sie von denjenigen, die sie vertreten, gar nicht als solche wahrgenommen werden: Wenn ich das Stereotyp, dem ich anhänge, nicht als solches ablehne, habe ich auch keine Motivation, es zu hinterfragen, und ich handle weiterhin unter seinem Einfluss.

In einem letzten Teil dieser Forschung werden Wege zur Bekämpfung dieser Stereotypen aufgezeigt – die von Emanzipationsbewegungen, darunter ATD Vierte Welt, erprobt wurden. Es ist tatsächlich möglich, Stereotypen zu dekonstruieren und sich epistemischer Laster bewusst zu werden, indem insbesondere von Armut betroffene Menschen kollektiv Wissen aufbauen und andere Menschen „epistemische Reibungen“ erleben können, die es ihnen ermöglichen, ihr Verständnis kollektiv zu dekonstruieren, um ein gemeinsames Verständnis wieder aufzubauen.

  1. Diese Forschung ist Gegenstand des Buches Pour une nouvelle philosophie sociale. Transformer la société à partir des plus pauvres (Für eine neue Philosophie des Sozialen. Die Veränderung der Gesellschaft beginnt bei den Benachteiligten – nicht übersetzt) herausgegeben von François Jomini, David Jousset, Fred Poch und Bruno Tardieu und veröffentlicht im November 2023 im Verlag Le Bord de l’eau. Erhältlich in unserem Online-Shop.
  2. Epistemisch: mit Wissen verbunden.
  3. Die ersten drei wurden von José Medina erarbeitet, in seinem Werk The Epistemology of Resistance, Gender and Racial Oppression, Epistemic Injustice and Resistant Imaginations, New York, Oxford University Press, 2013 (nicht übersetzt). Die zwei weiteren sind in der Forschungsarbeit über das Wissen-Kreuzen zwischen Philosophen, ständigen VolontärInnen, ATD Vierte Welt Verbündeten und Personen in Prekarität entstanden.

Text angepasst von Perry Proellochs, Redakteur ATD Vierte Welt und übersetzt von Susanne Privitera