Die Ungerechtigkeit hängt mit dem Wissen zusammen (1. Teil)

L'injustice liée au savoir

Die Co-Forscherinnen und Co-Forscher von ATD Vierte Welt, die an der Forschung „Die soziale Persönlichkeit gemeinsam denken mit Joseph Wresinski“ teilgenommen haben. © Carmen Martos, ATD Vierte Welt

Die Studie mit dem Titel „Penser ensemble l’être social avec Joseph Wresinski“1 („Die soziale Persönlichkeit gemeinsam denken mit Joseph Wresinski“) ist gemeinsam von ATD Vierte Welt Mitgliedern – Armutsbetroffenen, VolontärInnen und Verbündeten –, und von PhilosophInnen durchgeführt worden. Von 2019 bis 2022 haben sie zu drei Schwerpunkten geforscht: das Recht, der Widerstand und die Ungerechtigkeit, die mit dem Wissen zusammenhängen. Der nachfolgende Text handelt vom dritten Schwerpunkt und somit von den wesentlichen Erkenntnissen dieser Studie. Weil das Thema so umfangreich ist, handelt dieser Teil von den Formen, die die Ungerechtigkeit annimmt während ihre Ursachen und Auswirkungen im zweiten Teil abgehandelt werden, der in der nächsten Nummer von Informationen Vierte Welt erscheint. Über die beiden anderen Schwerpunkte wird später berichtet.

Wer in grosser Armut lebt wird normalerweise als Person angesehen, die unfähig ist, gültiges und anerkanntes Wissen weiterzugeben und entsprechend zu handeln. Diese Menschen werden nur sehr selten aufgefordert, sich im Vorfeld von Entscheiden zu Themen zu äussern die alle betreffen. Dadurch sind sie in einer zugeschriebenen Unfähigkeit gefangen: Dass sie die politischen, sozialen und wirtschaftlichen Systeme nicht beeinflussen können, 

das resultiert darin, dass andere entscheiden, was für sie lebenswichtig ist und wann es für sie lebenswichtig ist.

Die Ungerechtigkeit die mit dem Wissen zusammenhängt manifestiert sich auf fünf Hauptebenen. Zwei Punkte sind hervorzuheben, bevor diese fünf Formen zusammenfassend dargestellt werden. Erstens: Das Konzept der Ungerechtigkeit, die mit dem Wissen zusammenhängt, wurde ursprünglich von Miranda Fricker entwickelt, einer feministischen englischen Philosophin1. Zweitens: Das Konzept der fünften Hauptform – die Ungerechtigkeit der Übertragung – ist ein Originalbeitrag, der bei der Studie „Die soziale Persönlichkeit gemeinsam denken mit Joseph Wresinski“ entstanden ist als die von Armut Betroffenen ihr Wissen austauschten.

1. Die Ungerechtigkeit der Erlebnisberichte

Man ergreift das Wort, man berichtet über seine Erfahrungen, aber niemand glaubt einem, niemand hört einem zu, man wird als uninteressant abgestempelt und niemand fragt nach unserer Meinung. Man wird „unsichtbar“ gemacht und in Verruf gebracht. 

2. Die Ungerechtigkeit der Auslegung/Deutung

Man ist von den Aktivitäten ausgeschlossen, bei denen sich Wissen überträgt und aufbaut, man wird nie angefragt, um an Debatten teilzunehmen und man wird von den Orten des Wissens ferngehalten. Man kommt nie soweit, dass man effizient seine Erfahrungen weitergeben kann. Sei es weil man die richtigen Worte nicht findet, sei es weil die Worte von denen nicht verstanden werden, an die wir uns richten. Die Deutung, die andere vornehmen, verkehrt das Gesagte manchmal ins Gegenteil von dem was wir zu vermitteln versuchten. Man ist an den Rand gedrängt und muss stumm bleiben.

3. Die Ungerechtigkeit der Aneignung

Die Entdeckungen und die Vorstösse der Ärmsten werden immer wieder besser gestellten Klassen zugeschrieben oder von diesen in Anspruch genommen. Und manchmal dienen die durch sie oder mit ihnen gemachten Erfindungen vor allem den anderen (wie z. B. die Montessori-Methode). Joseph Wresinski hat jedoch hervorgehoben:

Die Armen sind die GestalterInnen, ja sogar die Quelle aller Ideale der Menschheit. Es ist dank der Ungerechtigkeit, dass die Menschen die Gerechtigkeit entdeckt haben; dank dem Hass die Liebe und dank der Tyrannei die Gleichheit aller Menschen. 

4. Die Ungerechtigkeit des Beitrags an die Gesellschaft

Man wird nicht als ProduzentIn von Kenntnissen gesehen; was wir sagen wird nicht als Resultat einer Überlegung angesehen. Man bittet uns zu berichten, unsere Emotionen zu beschreiben, unsere Lebensgeschichten zu erzählen, aber es ist jemand anderes – ein oder eine ExpertIn, ein oder eine ForscherIn – die unsere Aussagen deuten und sie analysieren. 

5. Die Ungerechtigkeit der Weitergabe

Man wird daran gehindert, sein Wissen an die Jüngsten seiner Familie, seiner Gemeinschaft, in seinem Beruf oder seiner Umgebung weiterzugeben. Diese Ungerechtigkeit nimmt den Ärmsten die Fähigkeit ihre Geschichte weiterzugeben, sich in eine gemeinsame Geschichte einzuschreiben und eine Identität aufzubauen. So wird vor allem den Eltern trotz täglicher Anstrengung eine wichtige Existenzberechtigung vorenthalten – „Wenn ich kämpfe, tue ich das nicht für mich, sondern für meine Kinder, damit sie ein besseres Leben haben als ich“. Das Unrecht hindert die Kinder auch daran, Verständnis für den Kampf aufzubauen, den ihre Eltern geführt haben; Verständnis, dank dem sie hätten Hilfe in Anspruch nehmen können um ihr Leben und das der anderen zu verändern.

Die Ungerechtigkeit die mit dem Wissen zusammenhängt schafft eine Gewalt, die einengt bis zum Ersticken. Es ist darum umso wichtiger zu verstehen, dass sie meistens aus einer sozialen Ignoranz entsteht: Viele die sie ausüben, tun dies unbewusst und bemerken es nicht. Es ist deshalb ein erster notwendiger Schritt um Ansätze zur Veränderung zu erarbeiten, dass man diese Ungerechtigkeit beleuchtet und sie für jene sichtbar macht, die sie verursachen.

Text bearbeitet durch Perry Proellochs, Redaktor ATD Vierte Welt

Übersetzung von Theres Bärtschi

1. Am 9. und 10. Dezember fand an der Universität Paris-Cité ein Kolloquium mit dem Titel „Armut, Sozialkritik und Wissen-Kreuzen“ als Abschluss dieser Forschung statt. Bruno Dabout, Generaldelegierter von ATD Vierte Welt, berichtet darüber in seinem Artikel „Une philosophie comme support d’action“ („Eine Philosophie als Handlungshilfe“ – nicht übersetzt). Diese Forschung wird auch mithilfe eines Videos vorgestellt (nicht übersetzt).

2. Miranda Fricker, Epistemic Injustice. Power and the Ethics of Knowing, Oxford, Oxford University Press, 2007 (nicht übersetzt). Die revue Quart Monde hat kürzlich ein Interview mit ihr geführt – es wurde in ihrer Ausgabe 265 veröffentlicht, die den Ungerechtigkeiten im Zusammenhang mit Wissen gewidmet ist, und ist online auf der Website von ATD Vierte Welt International auf Englisch und Französisch zugänglich – hier.