Partizipieren, teilen und Bewusstsein wecken

Holzschnitt, Gemeinschaftswerk, Volksuniversität 1991_1992

Am 25. November 2021 war ATD Vierte Welt einer der Gäste des Netzwerktages der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) des Kantons Neuenburg. Rund 120 Fachleute, PolitikerInnen und ForscherInnen kamen zusammen, um über das Thema „Partizipation, Selbstbestimmung, Zwangshilfe: Gekreuzte Blicke auf eine grundlegende Herausforderung der Sozialarbeit“ zu diskutieren. ATD Vierte Welt trat dort ein für den Einbezug der seit von Generationen von Armut betroffenen Menschen.

Menschen, die von Armut betroffen sind, verfügen über eine besondere, direkte Erfahrung mit der Realität im Zusammenhang mit Selbstbestimmung, Zwangshilfe und Partizipation und haben ein besonderes Wissen darüber entwickelt. Wie können Institutionen, wie z. B. die KESB, dieses Erfahrungswissen berücksichtigen? Wie können sie es anerkennen, um ihre Beziehung zu Menschen, die in Armut leben, besser zu verstehen? Und wie können sie dieses Wissen nutzen, um gemeinsam auf die Beseitigung der Armut hinzuarbeiten?

Im Rahmen des Forschungsprojekts „Armut – Identität -Gesellschaft“ (AIG) arbeitet ATD Vierte Welt seit drei Jahren mit Fachleuten und ForscherInnen aus dem Sozialbereich zusammen. Dort werden gerade die oben genannten Fragen diskutiert. Da die Forschung nun in ihre Endphase eintritt, ist es von entscheidender Bedeutung, jede Gelegenheit zu nutzen, um mit Universitäten, sozialen Einrichtungen und PolitikerInnen in einen Dialog zu treten. Denn insbesondere auf diesen Ebenen müssen die Veränderungen stattfinden, die dazu beitragen, den Kampf gegen die Armut voranzutreiben.

Ganz unterschiedliche Darstellungen

Der KESB-Netzwerktag umfasste mehrere Workshops. Einer dieser Workshops befasste sich mit der im Rahmen des AIG-Projekts angewandten Methode des„Wissen-Kreuzens“. Dabei bedienten sie sich einer Übung, die sich als besonders aufschlussreich erwies. Sie baten die TeilnehmerInnen, aus einer Auswahl von Fotos diejenigen auszuwählen, die ihrer Meinung nach am besten darstellen, was eine Institution ist, und ihre Wahl zu kommentieren. Das Bild eines Seils wurde mehrmals ausgewählt, weil „es ermöglicht, gemeinsam auf den Berg zu kommen“. Die gleiche Übung wurde anlässlich einer Volksuniversität Vierte Welt für von Armut betroffenen Personen durchgeführt, und auch dort wurde ein Seil ausgewählt. Dieses sagte jedoch etwas ganz anderes über das, was die Institution in ihren Augen darstellt, nämlich eine Form der Verkettung, eine Sackgasse, das Fehlen von Wahlmöglichkeiten. Diese Konfrontation mit einer Vorstellung, die sich so sehr von ihrer eigenen unterscheidet, hat mehrere TeilnehmerInnen des Workshops „erschüttert“. Eine solche Übung gab Einblick in das Wesen des AIG-Projekts und des Wissen-Kreuzens: Daran arbeiten, Armut zu verstehen, wobei die Wissen von Fachleuten, ForscherInnen und armutsbetroffenen Menschen, gleichermassen berücksichtigt werden müssen, um ein unverzichtbares kollektives Wissen zu schaffen, das allein zu wirklichen Veränderungen führen kann.

Joana Jaquemet, ATD Vierte Welt ständige Volontärin

Anne-Claire Brand, schweizerische Koordination