Kollektiv gemeinsames Wissen aufbauen

Die drei Wissen-Kreuzen Gruppen beim zweisprachigen nationalen Werkstatt, 19. und 20. November 2021, Treyvaux

Die Mitwirkung am Ansatz „Wissen Kreuzen“ bedeutet, sich auf eine persönliche wie auch kollektive Reise zu begeben. Persönlich, weil sie uns auf die Diskrepanz aufmerksam macht, die zwischen der Absicht eines Mitarbeiters oder einer Mitarbeiterin im Sozialwesen und der Realität des Gegenübers bestehen kann.

Und kollektiv, weil dieser Kontrast, wenn er berücksichtigt, analysiert und untersucht wird, uns hilft, ein gemeinsames Verständnis und Wissen aufzubauen.

Eine Bewusstseinsbildung

Eine Seite dieser Diskrepanz soll im Folgenden anhand eines Beispiels verdeutlicht werden: Im Projekt „Armut – Identität – Gesellschaft“, das ATD Vierte Welt seit 2019 führt, sollten wir so genannte «Peer-Gruppen» (mit Teilnehmenden aus dem gleichen Wissensbereich) bilden und mithilfe von Bildern und einem Satz darstellen, was „Institution“ für uns bedeutet. Die Ergebnisse dieser Arbeit haben mich besonders beeindruckt. Bei den Bildern und Worten, die in der Peer-Gruppe „Erfahrungswissen der Armut“ und in der Peer-Gruppe „Wissen durch Praxis“ verwendet wurden, gab es viele Überschneidungen: Stränge, Verbindungen. Die verwendeten Elemente ähnelten einander, doch die Interpretation und die damit verbundene Absicht unterschieden sich ganz und gar. Auf der einen Seite, das Bestreben Menschen zu begleiten, auf der anderen Seite die Erfahrung des Zwangs sowie der Einschränkung von Handlungsfähigkeit. Wie kann es zu einer derartigen Abweichung zwischen der eigentlichen Absicht einer Institution und der dort tätigen Personen einerseits und ihren NutzniesserInnen, den betroffenen Personen andererseits kommen? Wenn ich zum jetzigen Zeitpunkt die Hauptursache dafür benennen sollte, sähe ich diese vor allem darin, dass die von der Institution erbrachten Dienstleistungen nicht mit den Menschen konzipiert wurden, für die sie bestimmt sind. Infolgedessen wurden hierbei nicht wirklich die Realität und die Erfahrungen dieser Menschen berücksichtigt. Diese Unzulänglichkeit spiegelt sich auch in dem verwendeten Vokabular wider, das teilweise kränkend ist. Menschen in prekären Lebenslagen, zum Beispiel. Diese Bezeichnung wird von Fachleuten wohlwollend verwendet, aber für in Armut lebende Menschen klingt sie nach einem Mangel an Rücksicht und an Verständnis für ihre tägliche Realität, nach einem fehlenden Bewusstsein für die Komplexität ihres Lebens, für die Strategien, die sie anwenden müssen, für ihren Kampf – ein Kampf, der nach wie vor kaum bekannt und anerkannt ist.

Ein gemeinsames Projekt

Es ist diese Art von Bewusstsein, die meiner Teilnahme am Projekt „Armut – Identität – Gesellschaft“ den Takt gibt. Auf der Grundlage individueller Erfahrungen bauen wir in Gruppenarbeit Wissen auf, das wir dann mit dem Wissen anderer Gruppen verbinden. Eine nach der anderen werden diese Unterschiede angeschnitten, analysiert, vertieft, einverleibt und zum Grundmaterial, mit dem wir Stein für Stein gemeinsames Wissen aufbauen. Und obwohl wir im Laufe des Projekts derartige Kontraste feststellen, nehmen wir den grossen Respekt unter den Teilnehmenden wahr. Denn wir alle wissen, warum wir uns beteiligen: Um Schritt für Schritt Wege zu finden, die Dinge besser zu machen. Und um gemeinsam besser zu sein.

Sophie Neuhaus, Jugenddelegierte des Kantons Neuenburg, Gruppe „Wissen durch Praxis“ im Projekt „Armut – Identität – Gesellschaft“

Übersetzung von Laura Zettl

Das Projekt «Armut – Identität – Gesellschaft» wird auf unserer Website aus verschiedenen Blickwinkeln vorgestellt. Dort finden Sie auch weitere Informationen zu verschiedenen Aspekten des Wissen-Kreuzens.