Historische Forschung

Historische Forschung

Und Integration von Betroffenen

Am 14. Mai 2022 organisierte der Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) in Lausanne eine Präsentation der ersten Ergebnisse des Nationalen Forschungsprogramms „Fürsorge und Zwang“ (NFP 76). Im Anschluss an jedes Referat konfrontierte eine Podiumsdiskussion die ForscherInnen mit Fachleuten aus dem Sozialwesen und mit Personen, die diese Massnahmen erlebt haben. Professorin Anne-Françoise Praz, die ihr Forschungsprojekt1 vorstellte, hatte VertreterInnen von ATD Vierte Welt eingeladen, damit sie anhand des Projekts „Armut – Identität – Gesellschaft“ die Methode des Wissen-Kreuzens einem wissenschaftlichen Publikum vorstellten und ihnen so den Nutzen eines solchen Vorgehens aufzeigten.

In Richtung einer partizipativen Forschung gehen

Meine Forschungen zur Geschichte der Zwangsmassnahmen haben mich von der Notwendigkeit überzeugt, die von solchen Massnahmen betroffenen Personen einzubeziehen. Nicht nur, um ihre Aussagen zu sammeln, sondern auch, weil sie über Fachwissen zu diesen Massnahmen verfügen: Was diese bewirken, wie sie den Lebensweg beeinflussen und was man wissen und verstehen sollte, um zu verhindern, dass sich diese Geschichte wiederholt.

Ich habe an der Arbeit der Unabhängigen Expertenkommission (UEK) Administrative Versorgungen und am NFP 76 teilgenommen. Die Arbeiten der UEK waren keine partizipative Forschung, wie sie ATD Vierte Welt mit dem Wissen-Kreuzen betreibt. Die Erfahrungen der UEK haben jedoch gezeigt, dass es sinnvoll ist, in diese Richtung zu gehen und diese Art von Forschung zu fördern, wie uns die Schlussempfehlungen mitteilen.

Zu Beginn waren wir von der wissenschaftlichen Notwendigkeit überzeugt, die Geschichte der Versorgungen nicht nur aus der Sicht der Behörden und der damaligen ExpertInnen, sondern auch aus der Sicht der internierten Personen selbst zu schreiben. Diese Geschichte aus der Sicht der von diesen Zwangsmassnahmen betroffenen Personen findet sich in mehreren Bänden der UEK wieder, insbesondere in Band 1, der 66 fotografische und biografische Porträts enthält. Jedes dieser Porträts wurde von einem Zweiergespann aus ForscherIn und direkt betroffener Person einem Prozess der Diskussion und des gegenseitigen Korrekturlesens verfasst.

Diese Überzeugung war auch dadurch motiviert, dass wir sehr genau wussten, dass die UEK ohne das Handeln der Personen, die diese fürsorgerischen Zwangsmassnahmen – wie ausserfamiliäre Unterbringung oder Zwangseinweisung – erlitten hatten, niemals existiert hätte. Seit Ende der 1990er Jahre haben sich diese Personen zusammengeschlossen, um eine Reihe von Forderungen zu stellen: Historische Forschung, Zugang zu ihren Akten, Anerkennung ihres Leidens und Wiedergutmachung. Die UEK und das NFP 76 sind die politischen Ergebnisse dieser Mobilisierung.

GeschichtsforscherInnen von ATD Vierte Welt

Die UEK organisierte mehrere Treffen – in Form von Tagungen, Workshops usw. – zwischen ForscherInnen und Personen, die diese Massnahmen erlebt hatten. Und diese Kontakte wurden für mehrere von uns auf informeller Basis fortgesetzt. Im ersten Jahr der Arbeit stellten wir unser Forschungsprogramm verschiedenen Gruppen vor, insbesondere den „GeschichtsforscherInnen“ von ATD Vierte Welt in Treyvaux, die Personen mit Erfahrungswissen über Armut zusammenbringen. Wir haben schnell verstanden, dass der Beitrag dieser Personen zur Forschung weit über das – unumgängliche – Zeugnis hinausgeht, das sie geben können. Diese Begegnungen waren nicht nur Momente eines sehr reichen Austauschs auf menschlicher Ebene, sie waren auch auf wissenschaftlicher Ebene anregend.

Wir haben viele gute Anmerkungen erhalten. Die folgenden sind mir besonders in Erinnerung geblieben. Erstens wurde mir klar, dass für diese Menschen Kinderplatzierungen oder administrative Versorgungen nicht nur ein Teil ihrer Vergangenheit sind. Die Folgen dieser Massnahmen setzen sie in ihrer persönlichen und familiären Geschichte fort, ihre Auswirkungen sind gross und dauerhaft. Zweitens – und diese Feststellung wurde von unserem gesamten Team geteilt – hatten wir die Rolle der Armut als Quelle der Stigmatisierung und als Risiko für eine Versorgung vernachlässigt. Das Wort „Armut“ kam übrigens nirgendwo in unserem Forschungsprogramm vor, wie das Team von ATD Vierte Welt sehr gut hervorgehoben hat. Schliesslich hatte ich die stigmatisierende Kraft bestimmter Begriffe, die in Rechtstexten und Akten verwendet werden – „Faulenzer“, „Trinker“, „liederliches Mädchen“ – usw., nicht ermessen. Als Historikerin neige ich dazu, diese Wörter mit einer gewissen Distanz zu betrachten. Ich weiss, wie sie damals in Verbindung mit Wissen und Routinen verwendet wurden, und ich weiss, dass manche Wörter (z. B. „debil“) weniger abwertend waren als heute. Aber Menschen, die diese Wörter in ihren Akten entdecken oder sie von HistorikerInnen hören, bekommen sie mit all ihrer Gewalt ins Gesicht. Es ist daher wichtig zu wissen, wie man diese Wörter sagt und schreibt, damit sich die Menschen, die uns zuhören und lesen, ebenfalls von ihnen distanzieren können.

Die Erfahrung der UEK mit den Betroffenen hat uns eine Ahnung davon vermittelt, wie reich eine wirklich partizipative Forschung sein kann. Wir müssen jedoch feststellen, dass das derzeitige Format der akademischen Forschung dafür nur schwer geeignet ist: Die SNF-Gesuche sind streng formatiert, die Ergebnisse müssen regelmässig geliefert werden, die Zeit für die Forschung ist knapp bemessen, ebenso wie die Zeit für den Austausch. Aber nichts hindert uns daran, kreativ zu sein – auch innerhalb der Akademie!

Anne-Françoise Praz, Professorin für Zeitgeschichte an der Universität Freiburg

1. Markus Furrer, Professor für Geschichte und Geschichtsdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Luzern, und Anne-Françoise Praz leiteten gemeinsam das Forschungsprojekt „Lebenswege von fremdplatzierten Jugendlichen“ („Adolescent in care and the acquisition of human and social capital: a comparative study of opportunities and achievements in four Swiss cantons (1950-1985)“, um genau zu sein).