Die Mauern der Ausgrenzung durchbrechen

Forschung Philosophie und Armut

Die Gruppe der Co-ForscherInnen sowie das pädagogische Team des Seminars im Centre de mémoire et de recherche Joseph Wresinski. © Carmen Martos, ATD Vierte Welt.

Ein Seminar über Sozialphilosophie, um „die Mauern der Ausgrenzung zu durchbrechen“

Mehr als 200 Personen haben an dem Seminar über Sozialphilosophie teilgenommen, das von ATD Vierte Welt am 9. und 10. Dezember 2022 an der Université Paris-Cité organisiert wurde.

Nach mehr als drei Jahren „kollektiven Abenteuers“ waren alle beteiligten ForscherInnen des Projekts mit dem Titel „Armut, Gesellschaftskritik und Wissen-Kreuzen“ stolz und tief bewegt, als sie ihre Arbeit vorstellten, die sich auf drei Schwerpunkte konzentrierte: das Recht auf Rechte, den Widerstand und die Ungerechtigkeit in Bezug auf Wissen.1 „Wir haben es geschafft, miteinander zu sprechen und uns zu verstehen. Manchmal sind wir aneinandergeraten, aber wir haben eine echte Gemeinschaft geschaffen. 

Nicht jeder hat ein grosses Studium absolviert und nicht jeder hat Erfahrung mit extremer Armut. Wir können also alle gegenseitig voneinander lernen“,

meint Angélique Jeanne, Aktivistin ATD Vierte Welt.

Für ATD Vierte Welt ist dieses Forschungsprojekt „ein sehr bedeutender Schritt“, betont Bruno Dabout, Generaldelegierter der Bewegung. „Es zeigt, dass einige unserer intellektuellen Bemühungen zutiefst mit anderen Strömungen in der Welt übereinstimmen, damit sich die Produktion von Wissen von der Aufrechterhaltung von Herrschaftsstrukturen befreit. Das sind die Grundlagen, um die anhaltende Armut zu durchbrechen“, fährt er fort.

Gegenseitiges Verständnis

Die PhilosophInnen waren von dem einzigartigen Ansatz beeindruckt. „Unsere gemeinsame Arbeit wurde von Personen vorangetrieben, die allzu oft zurückgewiesen werden – sei es wegen fehlenden Wissens oder sei es wegen nur als praktisch erachteten Wissens. Die Infragestellung dieser Grenze zwischen theoretischem Wissen und praktischem Wissen war der Grundstein unseres Gedankenexperiments“, erläutert der Philosoph Guillaume Le Blanc.

Um zu diesem Ergebnis zu gelangen, mussten die acht AktivistInnen ATD Vierte Welt, die acht PhilosophInnen und die zwölf PraktikantInnen, Verbündeten und ständigen VolontärInnen von ATD Vierte Welt, zunächst ihre Ängste überwinden davor, beurteilt zu werden, nicht verstanden zu werden und den „Jargon“ der anderen nicht zu verstehen, oder aber zu erleben, dass ihre Aussagen verdreht oder instrumentalisiert werden… Durch die Momente des Zusammenseins konnte ein „gegenseitiges Verständnis geschaffen werden, ohne dabei die Unterschiede zu verwischen“, erklärt Fred Poché, Mitglied des pädagogischen Teams und Philosoph.

Die Sozialphilosophie ermöglicht es, die Gesellschaft zu hinterfragen und einen kritischen Blick auf ihre pathologischen Zustände zu werfen. Eine der Herausforderungen dieser Forschungsarbeit bestand also darin, zu zeigen, dass

„Menschen, die von Ausgrenzung betroffen sind, über ein unverzichtbares Wissen verfügen, das es ermöglicht, die Gesellschaft an ihren Wurzeln zu treffen“,

erklärt David Jousset, Philosoph und Initiator dieses Seminars.

Ein entscheidender Beitrag

Die MitforscherInnen möchten nun, dass die Texte veröffentlicht werden, aber ihre Denkanstösse haben schon jetzt einige Gewissheiten erschüttert. „Eure Arbeit ist absolut notwendig und unverzichtbar. Sie wird uns auch weiterhin dazu bringen, darüber nachzudenken, wie sehr die Rechtsnormen nämlich brutal sein können und wie man dafür sorgt, dass das Recht ausreichend Schutz bietet“, so die Défenseure des droits (Verteidigerin der Rechte) Claire Hédon. Régis Brillat, Exekutivsekretär des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter (eine Institution des Europarates), war seinerseits von der Bedeutung der „richtigen Worte“ beeindruckt. „Euer Beitrag kann absolut entscheidend sein, um zu verhindern, dass eine Regelung, auch wenn sie aus rechtlicher Sicht einwandfrei ist, als verletzend oder beleidigend empfunden wird.“

Bei diesem Seminar ging es auch um die „persönliche Transformation aller MitforscherInnen, wie David Jousset für sich selbst erfahren hat: „Ich denke und schreibe jetzt anders, da ich weiss, dass meine intellektuellen Hirngespinste für manche zu einer Waffe werden können, um die Mauern der Ausgrenzung zu durchbrechen“.

Julie Clair-Robelet, Chefredakteurin des Journal d’ATD Quart Monde (Frankreich)

Übersetzung von Petra Lackner

Es gibt auch ein 26-minütiges Video (auf Französisch), in dem das Seminar für Sozialphilosophie und seine Etappen von 2019 bis 2022 präsentiert werden.

  1. Diese drei Schwerpunkte werden ab diesem Sommer nacheinander aufgegriffen und weiter ausgeführt, in unserer Zeitung Informationen ATD Vierte Welt veröffentlicht und auf unserer Website www.atd.ch online gestellt.