Wirken, sich mitteilen und abheben…
An den Kreativtagen im Haus von ATD Vierte Welt sind armutsbetroffene oder isolierte Menschen willkommen. Mit ihren Werken öffnen sie eine Tür.
Collagen faszinieren mich. Auf dem Tisch vor mir liegen viele Bilder und illustrierte Zeitschriften. Schön, darin zu blättern und Bilder zu suchen, die uns ansehen, ja ansprechen, ohne zu wissen warum. Warum gerade dieses Bild und nicht ein anderes?
Marie-Claire wählt ein grünes Blatt als Hintergrund und schneidet dann mit grosser Sorgfalt vier Fotos von Schulklassen aus. Mit Kindern vom andern Ende der Welt. Nun sucht sie, wie sie den Kindern in ihren Bänken etwas mehr Fröhlichkeit geben könnte. In einer kleinen Schatzdose findet sie winzig kleine, magische Figuren, die glitzern: eine Sonne, einen Stern, Blumen. Sorgfältig platziert sie diese, wie kleine Perlen.
Dann entdeckt sie ganz kleine Buchstaben. Sie beginnt, das Wort SCHULE zusammenzusetzen und fragt uns, ob sie es richtig geschrieben habe. Und auf welche Seite das E und das L schauen müssen. Das Resultat ist bezaubernd!
Und schon beginnt sie die nächste Collage. Diesmal sind es feine, leichte Blumen, die sie faszinieren und die auf einem orangen Papier wie Schmetterlinge zu fliegen scheinen. Wieder entsteht eine richtige Komposition. Wie in Japan mit Ikebana, denke ich.
Sie spricht nicht, aber da ist ein Glanz in ihren Augen! In den Augen dieser Frau, deren Gesicht gezeichnet ist. Die Tag für Tag ihren Neffen unterstützt, damit er in die Schule geht. Die von Menschen, die sie nicht ernst nehmen, immer wieder verletzt und mit unschönen Bemerkungen gedemütigt wird.
Neben ihr sitzt ihre Freundin Michèle.
Für Michèle sind es die Vögel, die sie faszinieren. Vögel im Käfig. Draussen, auf zwei Bäumen, auf zwei abgestorbenen Bäumen, die Vögel im Käfig. Was will sie uns wohl sagen? Sie, die Vögel liebt, die welche bei sich zuhause hat und oft Vögel zeichnet, anhand von gesammelten Bildern aus alten Zeitungen. Auf einer Postkarte mit dem Haus von ATD Vierte Welt setzt sie eine grosse Eule auf das Dach. Sie schaut uns an. Wacht sie über uns? Die weise Eule, wie es heisst. Sie scheint streng zu beobachten.
Ich denke an Michèles Sohn, der seit zwei Jahren in unserer Philosophiegruppe mitmacht und uns sagte, dass er gern die Welt betrachte, « so wie der Adler, der hoch oben am Himmel fliegt. » Er sagt, dass ihn das schon als Kind faszinierte. Ich muss an Jugendliche gewisser Kulturen von Schamanen denken, die das Überleben üben, um ihren Weg zu finden, und die von ähnlichen Erfahrungen berichten. Vielleicht gibt es eine Verbindung?
Michèle vertieft sich in ein anderes Bild: Die schöne, wunderschöne Schweiz, die Berge, die im Wind flatternde Fahne, der Friede des « Heidilandes ». Und dann erscheint rechts plötzlich ein grosser, schwarzer Rabe, überdimensioniert.
Mir kommt das Lied vom schwarzen Raben von Barbara in den Sinn, und es schaudert mich. Es schaudert mich umso mehr, wenn ich an die vielen Menschen denke, die gerne tanzen, singen und über dieses schöne Land fliegen möchten, aber den abweisenden Blicken der Verachtung ausgesetzt sind. Wie Michèle sehnen sie sich alle nach ermunternden Blicken, die dem Leben dienen.
Noldi Christen, Langzeitvolontär