Was Wissen-Kreuzen der Forschung bringen kann

Andrea Abraham

Andrea Abraham beim Kolloquium „Endlosschlaufe Armut: welche Verantwortung für unsere Gesellschaft?“, 9. Mai 2023 in Bern

Andrea Abraham, Leiterin eines Projekts in Nationalen Forschungsprogramme NFP76 sowie Dozentin und Forscherin an der Fachhochschule Soziale Arbeit BFH, betont, inwiefern der Ansatz des Wissen-Kreuzens im Rahmen des Forschungsprojekts „Armut – Identität – Gesellschaft“ für sie als Wissenschaftlerin neu war. Und formuliert mehrere Fragen, die ihr das Projekt in Bezug auf die an den Hochschulen praktizierte Forschung aufgibt.

Ich war es gewohnt, die Stimmen von Menschen in Form von Interviews in meine Forschungen einzubeziehen. Dabei liegt viel Macht bei mir als Forscherin. Ich entscheide in Zusammenarbeit mit meinem Team, welche Aussagen wie verarbeitet und präsentiert werden und was nicht beleuchtet wird. Das Wissen-Kreuzen ist radikal anders und forderte mich als Forscherin. Es gab keine InterviewpartenerInnen, sondern DialogpartnerInnen. Es gab keine Fragebögen, sondern Diskussionen. Die Comfortzone der eigenen Wissenschaftsgemeinschaft wurde ergänzt durch die Begegnungszone des runden Tischs. Die Begegnungen waren gleichberechtigt aber nie verschmelzend. Bewusst nutzen wir unsere jeweiligen Positionen und Zugänge, um die Themen zu durchdringen, um sie in ihrer Tiefe, Schwere und Reichweite zu verstehen. Immer wieder verliessen wir den runden Tisch und zogen uns in unsere Gemeinschaften zurück – als Armutserfahrende, Fachpersonen oder WissenschaftlerInnen. Wir diskutierten, reflektierten, nahmen analytische Distanz und versuchten einen nächsten Baustein zu erarbeiten, mit welchem wir danach wieder in die Begegnung gingen. Diese Dialogräume und Prozesse waren fordernd. 

Bahnbrechend

Was ATD Vierte Welt mit ihrem Projekt zustande gebracht hat, ist in meinen Augen bahnbrechend. Mit ihrem Projekt hat ATD Vierte Welt nicht nur Wissen über die Mechanismen und Reproduktion von Armut erschaffen. Darüber hinaus haben sie mit dem konsequenten Wissen-Kreuzen gezeigt, dass diese Methode zu erfahrungsbasiertem, fachlich und wissenschaftlich verknüpftem Wissen führt. Weiter verbindet sie die involvierten Menschen auf eine Art und Weise, wie kaum je in einem Forschungsprojekt und vielleicht auch sonst kaum je im Leben. Das Projekt zieht Fäden, die wir als Teilnehmende mit in unsere jeweiligen Lebens- und Arbeitsbereiche nehmen.

Offene Fragen

Als Hochschulen sind wir in der Armutserforschung und -bekämpfung seit Jahren stark beteiligt. Und jetzt, dank meiner Teilnahme am Projekt und des Austauschs im Rahmen des Wissen-Kreuzens, bin ich überzeugt, dass wir auf vielen Ebenen neu gefordert sind. Wie schaffen wir es beispielsweise, Menschen mit Armutserfahrung auf ihren Bildungswegen zu fördern, ohne dass sie an unseren Zulassungskriterien scheitern? 

Wie können wir Menschen – auch Studierende – mit Armutserfahrung als ExpertInnen einbeziehen, ohne sie dabei erneut zu stigmatisieren? 

Wie gelingt es uns, Armut zu erforschen und ihrer Verschränkung mit Bildung, Gesundheit, Geschlecht, Klasse und Ethnizität gerecht zu werden? 

Wie können wir unsere Hochschulen so öffnen, dass nicht nur einseitige Wissensvermittlung, sondern ein Dialog mit der Bevölkerung möglich wird? 

Und wie können wir uns als Forschende sozialkritisch gegen Armut und mit armutserfahrenen Menschen engagieren, ohne uns von Partikularinteressen vereinnahmen zu lassen?

Das Projekt von ATD Vierte Welt ist auch deshalb nachhaltig, weil es uns zu Fragen wie diesen anregt. Für diese Chance bin ich sehr dankbar.