Grundlage und Verpflichtung

Annelise Oeschger

Annelise Oeschger beim Kolloquium Endlosschlaufe Armut: welche Verantwortung für unsere Gesellschaft?, 9. Mai 2023, Bern

Annelise Oeschger, Mitglied der Steuergruppe des Forschungsprojekt „Armut – Identität – Gesellschaft“, beschreibt inwiefern die Ergebnisse der Forschung eine Verantwortung für ATD Vierte Welt darstellen, inwiefern sie uns als Bewegung verpflichten.

Für die Bewegung ATD Vierte Welt in der Schweiz sind diese Forschungsarbeit und der Bericht eine hervorragende Grundlage, um weiterzuarbeiten. Vor allem aber sind sie eine enorme Verpflichtung. Viele Menschen, die während nun fast vier Jahren daran beteiligt waren, sind heute hier. Wir wissen, welche grosse Hoffnung mit dieser Arbeit verbunden ist und ich bin überzeugt, Sie alle tragen diese Hoffnung und diese Erwartungen mit.

Ein 30jähriger Projektteilnehmer, der heute nicht hier sein kann, weil sein Leben von behördlicher Fremdbestimmung geprägt ist, sagte ganz klar, dass wir uns die Zeit nehmen mussten um herauszufinden, was eigentlich passiert und um diese Ungerechtigkeiten dann auch deutlich zu formulieren – voreilige Vorschläge und Massnahmen würden die Endlosschlaufe nur weiterlaufen lassen. Es ist jedoch dringend, dass sich etwas Wesentliches ändert – 

die verachtende Art und Weise, wie in diesem Land so oft mit Menschen umgegangen wird, können wir nicht mehr hinnehmen.

In allen vier im Schlussbericht genannten Handlungsfeldern gibt es Bereiche, in denen sich ATD Vierte Welt besonders engagieren wird, wo immer möglich in Partnerschaft mit anderen Initiativen und Organisationen. Und einige solcher Engagements und Partnerschaften wurden soeben genannt!

Vorstösse unterstützen

So werden wir die Vorstösse unterstützen, die die Abschaffung der umfassenden Beistandschaft – die einen automatischen Entzug der Handlungsfähigkeit in allen Lebensbereichen bedeutet (Art. 398 ZGB) – zum Ziel haben.

Die aktuelle Revision des seit 2013 geltenden Erwachsenenschutzrechtes, die zur Zeit in Vernehmlassung ist, zielt auf eine Stärkung des Selbstbestimmungsrechts der betroffenen Personen, und nahestehende Personen sollen besser in die Verfahren und Entscheide der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (KESB) einbezogen werden. ATD Vierte Welt unterstützt diese Verbesserungen selbstverständlich, betont darüberhinaus aber auch die Wichtigkeit eines umfassenden Rechts auf Begleitung durch eine selbstgewählte Vertrauensperson in allen Phasen des Verfahrens und in allen Entscheidungsprozessen.

Die Fremdplatzierung von Kindern aufgrund von Armut bleibt ein Bereich, der tief mit der Endlosschlaufe Armut verbunden ist. Dies ist auf Seite 30 des Berichts auch klar ausgedrückt: 

„Die Massnahme (i. e. die Fremdplatzierung) sollte das Leben verbessern, aber wenn die nächste Generation auch wieder fremdplatziert wird, dann stimmt etwas nicht.“ 

Aktuell beteiligen sich mehrere junge Familien mit Armutserfahrung aus der Schweiz an der „Werkstatt Familie“, einem internationalen Begegnungs- und Forschungsprojekt von ATD Vierte Welt. Die Vorschläge, die daraus in Zusammenarbeit mit Fachleuten entstehen, werden wir aufnehmen – zum Beispiel betreffend eine respektvolle Begleitung von Eltern und Familien, die wirklich zu einem bereichernden Leben mit ihren Kindern beiträgt.

Alle können mitwirken

Auf der gesellschaftlichen Ebene steht Artikel 8 der Bundesverfassung im Vordergrund, der ein Ende der Diskriminierung aufgrund der sozialen Situation fordert. Wir wissen, wie stark immer wieder verbreitete Stereotypen und Diskreditierungen sich sowohl auf die gemeinten Menschen als auch auf ihr Umfeld und die ganze Gesellschaft auswirken. Ich will hier kein einziges dieser Bilder nennen, nur nochmals betonen, wie verheerend sie gerade auch in einer direkten Demokratie wie der unsrigen sind. Hier können ausnahmslos alle Menschen, Gruppierungen, Organisationen mitwirken, um ein anderes Narrativ zu schaffen – die Geschichte erzählen, wie sie wirklich war, die Statistiken nicht allein interpretieren sondern zusammen mit den Menschen, die hinter den Zahlen leben, die Millionen von Arbeitsstunden die in prekären Jobs, Beschäftigungsprojekten, Familien geleistet werden, wahrnehmen und als Sprungbrett für ein würdevolles Weiterkommen ausgestalten.

Bezüglich der Ebene der Institutionen denke ich gerade an einen verrückten Moment während der Dialogtreffen: Der Leiter eines städtischen Sozialdienstes sagte, die Sozialhilfe soll so ausgestaltet sein, dass sie den Menschen ermöglicht, aus der Armut herauszukommen. Eine Person mit der Erfahrung der Armut erwiderte umgehend (in Bezug auf die Sozialhilfe): „Aber für uns ist sie da, um drin zu bleiben in der Armut“.

Die eine unerlässliche „Massnahme“

Es ist so, dass wir nach diesem Forschungsprojekt sagen müssen: Betreffend alle Institutionen, die mit Menschen in Armut zu tun haben, kann nur eine „Massnahme“ dazu führen, dass die Institutionen ihren Aufträgen und Ansprüchen gerecht werden: die unvoreingenommene, kompetente und dauerhafte Zusammenarbeit mit den Menschen in Armut – auf Augenhöhe. Eine solche Zusammenarbeit wird, Etappe für Etappe und mit den notwendigen Ressourcen, zu einem Paradigmenwechsel im gesamten System der Unterstützung in den Gemeinden und in den Kantonen führen. Auch auf Bundesebene müssen geeignete Instrumente geschaffen werden, um diese Entwicklung voranzubringen.

Wie wir gehört haben, existieren bereits solche Beteiligungen und weitere werden geschaffen. ATD Vierte Welt wird nun überlegen, wie wir gemeinsam mit Partnerorganisationen den vielen Anfragen gerecht werden können, die uns diesbezüglich gerade erreichen. Es geht darum sicherzustellen, dass alle diese Initiativen wirklich die Menschen im Blickfeld haben, die am meisten von der Durchsetzung ihrer Rechte und der Anerkennung ihrer Würde entfernt sind.

Bildung und Forschung

Ein Bereich, in dem ATD Vierte Welt sicher ein partnerschaftliches Pilotprojekt lancieren wird, ist der Bereich der Bildung und der Forschung, wo Gefässe für gemeinsame Weiterbildungen und für Wissenswerkstätten mit Menschen aus der Praxis, der Wissenschaft und mit Armutserfahrung geschaffen werden. Der vorliegende Bericht ist ein Instrument, um einen neuen „player“ ins Spiel zu bringen – um das Verständnis, wer wir füreinander sind, um die Entscheidung darüber, was anerkanntes Wissen ist, um die Macht der Interpretation und der Verteilung der Mittel zu beeinflussen – kurz, um unsere Demokratie zu leben, mit allen Menschen.

DANKE!