Der Armut Gerechtigkeit widerfahren lassen

Annelise Oeschger beim Kolloquium in Bern, 9. Mai 2023

Annelise Oeschger beim Kolloquium „Endlosschlaufe Armut: welche Verantwortung für unsere Gesellschaft?“, Bern, 9. Mai 2023

Bis in die 1980er Jahre wurden in der Schweiz Kinder und Jugendliche ohne Gerichtsurteil, ohne ihre Zustimmung oder die ihrer Eltern zwangsweise in Heime, Institutionen oder landwirtschaftliche Betriebe eingewiesen, hauptsächlich weil sie arm waren. Viele dieser Jugendlichen erlitten Gewalt, die ihr Leben bis heute prägt. Reicht die 2013 erfolgte Bitte der Schweizer Regierung um Entschuldigung aus, um die Beziehungen zwischen dem Staat, den Opfern und allen Bürgern und Bürgerinnen zu verbessern?

Die Bitte einer Regierung um Entschuldigung gegenüber Bürgerinnen und Bürgern, deren Grundrechte vom Staat verletzt wurden, ist wertvoll, insbesondere wenn sie auf einer fundierten historischen Argumentation beruht und wenn in der Folge ein Gesetz erlassen wird, das „die Anerkennung und Wiedergutmachung des Unrechts“ zum Ziel hat. Der Artikel „Comment défaire ce qui a été fait?“(„Wie kann das, was getan wurde, wieder rückgängig gemacht werden?“) in dieser Zeitschrift beschreibt eine solche Bitte der Schweizer Regierung um Entschuldigung aus dem Jahr 2013 gegenüber ehemaligen Verdingkindern und anderen Opfern fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und bezeichnet sie als „einen ersten Schritt, der unerlässlich ist, um die Grundlagen des Zusammenlebens in unserem Land neu zu definieren“. Die Bitte um Entschuldigung war das Ergebnis eines langen Kampfes, der in erster Linie von Menschen geführt wurde, die diese Gewalt selbst erlebt hatten. Bei der offiziellen Zeremonie sagte die damalige Justizministerin Simonetta Sommaruga:

„All das darf nie wieder geschehen“2.

Wie kann der Staat den Schaden beheben?

Im politischen Alltag mit seinen unzähligen Zwängen und Schwachstellen ist es schwierig, solche ehrlich gemeinten Versprechen zu halten. Auf der Ebene der etablierten Demokratie verabschiedete das Parlament drei Jahre nach der Bitte um Entschuldigung das besagte Gesetz, das feststellt, dass „der Bund anerkennt, dass den Opfern Unrecht zugefügt worden ist, das sich auf ihr ganzes Leben ausgewirkt hat“ und das einen Solidaritätsbeitrag zugunsten der Opfer, die Konsultation von Archiven, die wissenschaftliche Untersuchung, die Information der Öffentlichkeit sowie die Unterstützung von Selbsthilfeprojekten vorsieht.3

Drei Jahre später wurde das Parlament von Personen, die Solidaritätsbeiträge erhalten hatten und denen die Behörden daraufhin Sozialleistungen gekürzt oder gestrichen hatten, sowie von zahlreichen AkteurInnen der Zivilgesellschaft und den Medien auf diesen Umstand aufmerksam gemacht. Das Parlament ergänzte daraufhin das Gesetz und stellte klar, dass der Solidaritätsbeitrag „nicht zu einer Reduktion von Leistungen der Sozialhilfe“ führt. Einige Monate später hob das Parlament, ebenfalls nach Protesten, die Antragsfrist für den Solidaritätsbeitrag auf und folgte damit der Meinung des Bundesrates, der feststellte, dass einer der Gründe, warum viele Opfer den Antrag noch nicht gestellt hatten, „ein wegen sehr negativer Erfahrungen ausgeprägtes Misstrauen gegenüber Behörden“ ist.4 Das Parlament beschloss, die Frist für die Beantragung des Solidaritätsbeitrags ganz abzuschaffen.

Für die Opfer: welche Wiedergutmachung?

In der Zwischenzeit trafen sich Mitglieder von ATD Vierte Welt, die diese Zwangsmassnahmen persönlich erlebt hatten, um ihre persönliche und kollektive Geschichte zu verstehen – und um sich über die aktuelle Situation auszutauschen, die oft immer noch von einer schmerzhaften Beziehung zu den Institutionen geprägt ist. Dabei stellte sich heraus, dass die beste, wenn nicht sogar die einzige Wiedergutmachung, die es geben kann, darin besteht, selbst aktiv werden zu können, damit sich solche Ungerechtigkeit und Gewalt nicht wiederholen. Ermutigt durch Bundesrätin Simonetta Sommaruga, der die Ergebnisse dieser Treffen vorgestellt worden waren, reichte ATD Vierte Welt beim Bundesamt für Justiz das Forschungsprojekt „Armut — Identität — Gesellschaft: Gemeinsam befreiendes Wissen zum Nutzen aller erarbeiten“ ein, welches das Bundesamt im Rahmen des AFZFG5 als eines der vom Bund mitfinanzierten „Selbsthilfeprojekte von Organisationen von Opfern und anderen Betroffenen (fördern), die zu einer Verbesserung der Situation einer Vielzahl von Opfern und Betroffenen führen können“, akzeptierte.

„Selbsthilfe“, „Verbesserung der Situation“, „Vielzahl von Opfern“… und auf der anderen Seite dieses gemeinsame Bestreben, das ein Mann, der von der ihm zugefügten Gewalt immer noch gezeichnet ist, so ausdrückt:

Das Land, sie sind es, die mir etwas schulden, mit all dem Schaden, den sie mir zugefügt haben, sie sind es, die die Dinge in meiner Zeit schlecht gehandhabt haben. Mit diesem Forschungsprojekt habe ich verstanden, dass es sich lohnt, etwas für mein Land zu tun, meine Geschichte zu verstehen, nicht zu urteilen. Die Armut, das Leid, sie gehen weiter, aber wir können sie verändern. Ich bin froh, dass ich nützlich bin, um der Gesellschaft etwas zu bringen“.

Ein „Selbsthilfeprojekt“ war also ein sehr begrenzter Rahmen! Aber wir mussten ihn nutzen, um das Forschungsprojekt in der politischen Landschaft des Landes zu verankern und so die Chance zu erhöhen, dass es eine echte Wirkung entfalten und dazu beitragen kann, das Land zu verändern und es von der anhaltenden Ungerechtigkeit und Gewalt gegen Familien zu befreien, die seit Generationen in Armut leben. Hier sind wir also mitten in der Demokratie, die es noch zu erringen gilt.

Forschung für ein besseres Verständnis

Vierzig Personen – WissenschaftlerInnen, Menschen aus der Berufspraxis und Menschen mit Armutserfahrung, aus der Deutschschweiz und der Romandie – arbeiteten in Wissenswerkstätten nach der Methode des Wissenkreuzens (fr. Croisement des savoirs) zusammen, die hierzulande in dieser Form noch nie angewandt worden ist. Volksuniversitäten Vierte Welt waren ebenfalls in den Prozess eingebunden. Die Forschungsfrage, die von einer Gruppe formuliert wurde, die sich aus Personen aus diesen drei Wissensfeldern zusammensetzte, lautete wie folgt: 

Wir wollen das Verhältnis zwischen Gesellschaft, Institutionen und Menschen in Armut besser verstehen, um daraus Schlüsse zu ziehen und so dazu beizutragen, dass sich die Armut nicht mehr von Generation zu Generation wiederholt.

Jede der Wissenswerkstätten, die im November 2019, 2020 und 2021 stattfanden, wurde von einer Begleitgruppe vorbereitet, die aus vier Personen mit Armutserfahrung, drei Fachleuten und drei WissenschaftlerInnen bestand. Um die Überlegungen voranzutreiben, ermittelten sie nach der ersten Wissenswerkstatt die grössten Spannungsfelder zwischen den Institutionen und den in Armut lebenden Menschen und nach der zweiten Wissenswerkstatt die entscheidenden Knotenpunkte, an denen die Gesellschaft ihre Sichtweise ändern und die politischen Gremien fundierte Entscheidungen treffen sollten. Diese Vorgehensweise ermöglichte es, wirklich bis zu den Wurzeln dessen zu gehen, was schief läuft. Während der dreijährigen Forschungsphase waren es vor allem TeilnehmerInnen mit Armutserfahrung, die dafür sorgten, dass man nicht zu schnell in die „Suche nach Lösungen“ verfiel: „Drei Jahre, das ist viel Zeit, aber die haben wir, nicht nur für uns Alte, sondern für die, die nach uns kommen“, wie ein 30-jähriger Mann sagte, der selbst in dieser generationenübergreifenden Armutsfalle steckt.

Im Anschluss an die Forschungsarbeit und auf der Grundlage der 500 Seiten Transkripte haben acht gemischte Gruppen die verschiedenen Teile des Herzstücks – des Herzens des gemeinsam erarbeiteten Wissens – verfasst. Auf der Grundlage dieses Dokuments wurden Dialoge zwischen ProjektteilnehmerInnen und ParlamentarierInnen sowie VertreterInnen von Hochschulen und anderen öffentlichen und privaten Institutionen durchgeführt, um gemeinsam gezielte Vorschläge für diese verschiedenen Bereiche der Gesellschaft zu erarbeiten. Zusammen mit dem Herzstück und einer Beschreibung der Methode bilden diese Vorschläge das Schlussdokument, das am 9. Mai 2023 anlässlich eines nationalen Kolloquiums in Bern vorgestellt wurde – 10 Jahre nach der Bitte der Regierung um Entschuldigung.

Die Feststellung eines absoluten Demokratiedefizits

Das Herz des Wissens – angesichts der Ignoranz der Gesellschaft in Bezug auf Armut! Denn eine wichtige Erkenntnis ist, dass das Bild, das sich die Gesellschaft von Armut und „den Armen“ macht, falsch ist, schlichtweg falsch. Und dass die politischen VertreterInnen in den allermeisten Fällen nicht die von Armut betroffenen Menschen repräsentieren, sondern nur das falsche Bild, das man sich von ihnen macht – ein absolutes Demokratiedefizit mit der Folge, dass die politischen Entscheidungen und die Gesetzgebung unangemessen und oft schädlich sind. Schon früh im Forschungsprojekt hatten Menschen mit Armutserfahrung gefordert, „Armut anzuerkennen“. Zunächst wurde dies ignoriert, doch dann kam es zu Irritationen: Armut sollte nicht anerkannt, sondern bekämpft werden. Und so war man zu einer Wurzel der generationenübergreifenden Armut gelangt, und die drei Wissensbestände konfrontierten sich, um schliesslich zu einer klaren Aussage zu kommen:

Armut anerkennen bedeutet, sie zu akzeptieren und sie in ihrer Gesamtheit kennenlernen zu wollen, sie nicht als Makel zu sehen, mit Schuldigen. Und sie verändern zu wollen, indem man sich fragt: Was braucht die Politik? Was brauchen die Menschen, die in Armut leben?“.

Ein Begriff oder eine Erfahrung, die – eben – in den Reflexionen während der gesamten drei Jahre präsent war, war der Begriff des Kampfes. Er wurde von den Menschen mit Armutserfahrung eingeführt, und andere Teilnehmende gingen zunächst so weit zu sagen, dass sie „dieses Wort nicht mögen“. Die wiederholte Konfrontation zwischen den Personen aus den drei Wissensbereichen gipfelte in der Formulierung einer Fachperson, dass ein „Kampf geführt werden muss – nicht nur, um Ressourcen zu finden, sondern auch, um die Würde zu bewahren“. Alle TeilnehmerInnen waren sich einig, dass Menschen, die von Armut betroffen sind, einen täglichen Kampf führen, dass aber die Gesellschaft nicht gegen die Armut kämpfen, sondern „der Armut endlich Gerechtigkeit widerfahren lassen“ müsse. Ein Aktivist hatte diesen Ausdruck gefunden und erklärte ihn folgendermassen: „Armut wird oft in Schubladen gesteckt: Man ist schlecht, man ist schmutzig, man ist ungebildet — und schon hat man alles über Armut gesagt. Der Armut Gerechtigkeit widerfahren lassen bedeutet, die Person so zu nehmen, wie sie ist, sie auf die gleiche Stufe zu stellen, sie zu erheben, also die Qualitäten zu sehen, die sie hat. Man darf nicht vergessen, dass Menschen, die von Armut betroffen sind, manchmal so tief im Loch stecken, dass sie einfach mitgeschleift werden, wenn man ihnen nicht Gerechtigkeit widerfahren lässt, indem man sie aufwertet. Für manche ist es sogar eine Frage des Überlebens“.

In der Diskussion über den Kampf wurde sogar die Verfassung angegriffen, in deren Präambel es heisst: „dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen“. Teilnehmende aus der Wissenschaft und der Berufspraxis sagten, dass sie diese Formulierung manchmal verwendeten, weil sie sie für sehr positiv hielten. Aber Teilnehmende aus dem Bereich der Armutserfahrung reagierten:

‹Schwach› ist ein Wort, das mich aufhorchen lässt, weil die Armen oft in die Kategorie der Schwachen eingeordnet werden. Aber schwach in Bezug auf was? Das muss man genauer erklären, denn jeder hat seine Stärken. Das Wort ist sehr abwertend und nicht repräsentativ für das, was die meisten von Armut betroffenen Menschen sind.“

„Die Grundlagen des Zusammenlebens im Land neu definieren“, wie Anne-Claire Brand in ihrem Artikel von 20136 forderte, das ist es!

Damit kommen wir zum Spannungsfeld rund um die Macht. Unnötig zu sagen, dass auch dieser Begriff grosse Debatten auslöste, anfangs vor allem zwischen Personen mit professionellem Wissen auf der einen Seite, die bemerkten, dass diese Diskussionen schon lange geführt würden und „die Leute ermüdeten“, und WissenschaftlerInnen und Personen mit Armutserfahrung auf der anderen Seite, für die die Frage der Macht eine Schlüsselfrage blieb. Man erinnerte sich daran, dass bereits zu Beginn des Austauschs deutlich wurde, wie sehr Fachleute und Menschen, die die Dienste aufsuchten, die Ohnmacht beider Seiten angesichts unzureichender Strukturen und Gesetze thematisiert hatten. Das entscheidende Machtungleichgewicht liegt also woanders: in der oft absichtlichen und erfolgreichen Reproduktion negativer Bilder durch zahlreiche Akteure und Akteurinnen, insbesondere in der Politik, die die Bemühungen all dieser Menschen, die sich konstruktiv für ein Leben in Würde einsetzen, torpedieren.

Auf dem Weg zu einer notwendigen Erneuerung der Demokratie

Mitte Juni 2022 wurde das „Herzstück des Wissens“ bei einer Volksuniversität Vierte Welt vorgestellt. Eine Nationalrätin war von diesem Dokument sehr beeindruckt und hat mit einigen ParlamentarierInnen die Reihe der Dialoge angefangen, die bis ins Frühjahr 2023 stattgefunden haben und zum Kolloquium führten – hin zu einer Erneuerung der Demokratie im Sinne eines Mannes, der sich zeitlebens geweigert hat, an der Armut zu zerbrechen: „Die Existenz der Armut als Realität in unseren Gesellschaften zu leugnen, bedeutet, den Menschen, die sie erleben, jede Möglichkeit zu nehmen, ihre eigene Identität und ihr eigenes Wissen aufzubauen. Es hindert uns daran, in unserem Land zu existieren und für die Rechte aller und mit allen zu handeln.

Annelise Oeschger, Mitglied der Steuergruppe des Forschungsprojekts „Armut – Identität – Gesellschaft“

1. Anne-Claire Brand-Chatton, „Comment défaire ce qui a été fait?“, Revue Quart Monde, 2013/2, Nr. 226: Identités, appartenances et vivre ensemble.

2. Rede von Bundesrätin Simonetta Sommaruga, 11. April 2013, Bern.

3. Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierung vor 1981, 30. September 2016 (AFZFG).

4. Stellungnahme des Bundesrates, 12. Februar 2020, S. 3.

5. Verordnung zum AFZFG Art. 10.

6. Anne-Claire Brand-Chatton, ebd.

Dieser Artikel wurde in der Ausgabe 263 der Revue Quart Monde (Démocratie fatiguée, démocratie régénérée?) veröffentlicht.