Aus der Sicht der Institutionen

Olivier Baud

Olivier Bau beim Kolloquium „Endlosschlaufe Armut: welche Verantwortung für unsere Gesellschaft?“ am 9. Mai 2023 in Bern

Der Schlussbericht des Forschungsprojekts „Armut  Identität  Gesellschaft“ enthält eine breite Palette an Veränderungsansätzen, von denen manche die Institutionen für Menschen in Armut betreffen. Olivier Baud, Sozialarbeiter und ehemaliger Generalsekretär der offiziellen Jugendstiftung in Genf („Fondation Officielle de la Jeunesse“), zeigt auf, inwiefern diese Veränderungsansätze von den Institutionen einen echten Paradigmenwechsel verlangen.

Vor zehn Jahren, anlässlich des Gedenkanlasses für ehemalige Verdingkinder und andere Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen, überbrachte ich die Entschuldigung der sozialpädagogischen Einrichtungen. Damals erklärte ich: „Ihr wurdet fremdplaziert, einzig und allein, weil ein Elternteil verstorben war oder weil ihr aus einer armen Familie stammt“.

Nach der Entschuldigung der politischen, religiösen und säkularen Behörden nahm ich an einer Podiumsdiskussion teil, welche die so dramatische und ungerechte Situation aus verschiedenen Perspektiven analysieren sollte. Dabei sollten alle in der Vergangenheit beteiligten Akteure und Akteurinnen an einen Tisch gebracht werden. Da die dafür notwendigen Voraussetzungen jedoch nicht erfüllt waren, hat sich das als sehr schwierig erwiesen.

Der Schlussbericht des Projekts „Armut – Identität – Gesellschaft“ trägt den Titel „Beziehungen zwischen Institutionen, Gesellschaft und Menschen in Armut in der Schweiz: eine Gewalterfahrung, die weitergeht“. Das Dokument soll zur Prävention von Missbräuchen beitragen. Insbesondere soll es erlauben, das Fortbestehen der Armut von Generation zu Generation zu durchbrechen. Wird man uns in 30 Jahren nach dem beurteilen, was wir jetzt unternehmen? Eines ist sicher: Dank der Ergebnisse dieser vierjährigen Forschung werden wir zumindest nicht mehr sagen können, dass wir nicht Bescheid wussten.

Revolution und Paradigmenwechsel

Das im Bericht dargelegte „Handlungsfeld auf institutioneller Ebene“ bedeutet für die sozialpädagogischen und Kindesschutzeinrichtungen in vielerlei Hinsicht eine echte Revolution. Dazu gehört beispielsweise, gemeinsam mit den in Armut lebenden Menschen eine Ethik-Charta zu erarbeiten, um ihre Grundrechte, insbesondere ihre Teilhabe und ihre Würde zu stärken. 

Eine solche aktive Mitwirkung setzt voraus, dass die Institutionen einen Paradigmenwechsel vollziehen: Statt sich auf administrative und verfahrenstechnische Aspekte zu konzentrieren, müssen sie dem Zuhören und dem Wohlwollen Vorrang geben. Werden die Fachkräfte im Sozial- und Kindesschutzbereich in der Lage sein, die Handlungsfähigkeit und das Potenzial von Menschen mit Armutserfahrung anzuerkennen? Werden sie ihre Identität anerkennen? Werden sie bereit sein, ihnen eine aktive Rolle in der Gesellschaft zu geben und die ihnen gebührende volle Würde zu gewähren?

Durch die Zuschreibung von Selbstverschuldung werden gesellschaftliche Vorurteile noch verstärkt. Daher müssen wir alle den Blick, mit dem wir Menschen in Armut begegnen, ändern und unser Augenmerk auf ihre Kompetenzen richten. 

Heute bin ich optimistischer als noch vor zehn Jahren. Denn immerhin haben inzwischen auch die Institutionen verstanden, dass administrative Kontrolle zu nichts führt und kostspielig ist. Setzen wir also diese Arbeit fort, damit den in Armut lebenden Menschen ihre Würde und vor allem ihre Rechte zurückgegeben werden. 

Dazu will ich mich einsetzen.

Übersetzung von Regina Reuschle