Sommerbotschaft 2023

Sommerbotschaft 2023

Guillermo Diaz Linares

Wenn sich Wege kreuzen

Josefina umarmt ihre noch verschlafenen Kinder. Ihr Mann arbeitet bereits auf dem Feld. Sie wird die Strasse nehmen, die ihr Dorf von der Stadt Cusco in Peru trennt. Dort wird sie von Charo, Amelie und Fray, Volontärinnen der Bewegung ATD Vierte Welt, für die Weiterbildung erwartet.

Josefina ist am Nachdenken und hat die Stirn an die Fensterscheibe des ratternden Busses gelehnt. Lohnt es sich wirklich, dreieinhalb Stunden zu fahren und nach ihrer Heimkehr wegen der Pandemie zwei Wochen strikte Quarantäne in Kauf zu nehmen? Das Leben ist so kompliziert geworden: Die Schulen sind geschlossen und die Armen werden vom Hunger aus der Stadt getrieben.

Ohne Internet im Dorf musste ich nach Cusco gehen. Ich will dort unbedingt dabei sein, denn an diesen Sitzungen kann ich aufleben und neue Energie tanken. Es ist mir wichtig, dass man auf mich zählen kann. Ich vergesse meine Sorgen. Alles, was ich dort lerne, hilft mir, meinen Weg aufrecht zu gehen!

Diese Tagungen, an denen sich Josefina mit aller Kraft festhält, sind eine Ausbildung zum „Wissen-Kreuzen“. ATD Vierte Welt leitet sie in Partnerschaft mit der Autonomen Universität Mexikos in mehreren Ländern Lateinamerikas. Josefina liebt es, dort ihre, wie sie sagt „Schwestern und Brüder“ zu treffen, andere junge Menschen wie sie, die oft für niemanden zählen. Sie begegnet dort auch Leuten aus Wissenschaft und Praxis mit einer anerkannten Ausbildung.

Zur selben Zeit, zwischen 2019 und 2023, hat ATD Vierte Welt in der Schweiz eine Forschung gemacht, die Menschen in Armutssituationen ermöglichte, ihr Wissen gleichwertig, wie jenes von Professoren und Wissenschaftlern, einzubringen.

Ich musste mit Worten arbeiten, obwohl mein Leben stets von Fakten geprägt war. Worte waren für mich gleichbeteutend mit Lügen oder Manipulation. Hier habe ich gelernt, dass Wörter etwas anderes sind, dass sie eine enorme Bedeutung haben, je nachdem, wie ein Wort oder ein Satz gebraucht wird. Für mich war das ein Lernprozess.

So spricht Alain von seiner Erfahrung in diesem Forschungsprojekt, zu dem das „Wissen teilen“ gehörte. Bei jeder Vorbereitung und jedem Treffen waren sie zahlreich, jene, die wie Alain die Worte suchten, um Verständnis für den Preis zu finden, den man zu bezahlen hat, wenn man wegen der Armut unter dem Blick und dem Urteil der andern steht.

Heute spricht Alain gerne davon in den Schulen. „Das Bewusstsein der Jüngsten wecken“, wie er sagt, und übermitteln, dass die Begegnung mög- lich ist und miteinander Lösungen zu suchen sind, die niemanden übergehen. Das ist nicht nur eine Utopie.

Das hat mein Leben und meine Sicht der Dinge verändert. Ich trage etwas bei, und das gibt mir eine andere Sicht auf mein Land. Vorher lebte ich mit der Angst zu sterben, ohne der Welt etwas ge- bracht zu haben.

In Peru drückt Josefina ihr Ausbildungsdiplom an sich und stellt sich den Stolz ihrer Kinder und ihres Mannes bei ihrer Heimkehr vor.

Wenn man sich einsetzt, muss man weitermachen und mit der Hoffnung aufstehen, dass wir einmal aus diesem Kreis der Armut ausbrechen können, nicht wahr? Ich weiss, dass Armut nicht nur eine Frage des Geldes ist, sondern auch des Gefühls, des Gespürs, der Kommunikation und der Kenntnis. Ich beteilige mich weiterhin dort, wo ich kann, und bringe ein, was ich weiss. Ich bin da, so gut ich kann.

Die ganz Armen geben sich nur soweit zu erkennen, als sie darauf vertrauen, dass das, was sie von sich offenbaren, das Tun ihres Gegenübers dauerhaft verändert.

Joseph Wresinski, 1983

Corinne Martin und Claude Hodel, Co-PräsidentInnen

Anne-Claire Brand, Nationale Koordination

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