Partizipation: Meine Fragen
Sie stehen vor einem grossen Problem und sind der/die erste Betroffene. Offensichtlich hängt die Lösung Ihres Problems zumindest zu einem grossen Teil von Ihnen ab: Es versteht sich von selbst, dass Sie sich – eventuell zusammen mit anderen – an der Suche nach Lösungen für Ihr Problem beteiligen. Doch wenn es um Armut geht, lässt die Gesellschaft – in der Schweiz wie auch anderswo – nur selten zu, dass sich die am stärksten Betroffenen an der Beseitigung dieses Übels beteiligen. Dieser Sachverhalt wirft viele Fragen auf. Alain Meylan, Aktivist und Teilnehmer am Wissen-Kreuzen, stellt uns hier einige davon vor und gibt uns Denkanstösse, wie wir sie begleiten können.
Wie seht ihr uns, wir die ausgegrenzten Menschen? Seid ihr bereit, MIT uns und unserem Erfahrungswissen über Armut zu arbeiten?
Warum stelle ich diese Fragen? Weil die Realität anders aussieht. Die Gesellschaft drängt Menschen gegen ihren Willen in eine Art Labyrinth, in dem sie dem Pfeil folgen müssen, um den Weg zu finden, der für sie vorgesehen ist. Von aussen betrachtet wissen manche Menschen besser als wir, was für uns persönlich und für unsere Familien gut ist. Wenn eine armutsbetroffene Person ihre Ablehnung zum Ausdruck bringt, kann es passieren, dass sie wieder an den Anfang zurückgesetzt wird und ein neuer, noch mühsamerer Weg mit Pfeilen beginnt. Wird der Graben der Armut dadurch nicht immer grösser und breiter, so dass er zu einem Grand Canyon wird?
Ich stelle also eine andere Frage: Warum nicht miteinander arbeiten? So könnte die Erfahrung der armutsbetroffenen Menschen in die Diskussion eingebracht werden. Warum sieht man nicht, dass Menschen in Armut, Leid und Marginalisierung, wer auch immer sie sind, Menschen sind, die ein würdiges, intelligentes, innovatives und kreatives Volk bilden, Menschen, die ihr Leben selbst in die Hand nehmen können – solange man ihnen zuhört und sie gleichberechtigt behandelt?
Keine Alibipartizipation. An einer Zukunftsvision mitwirken können
An der Suche nach einer gemeinsamen Vision mitarbeiten zu können, wie es das Wissen-Kreuzen ermöglicht, bietet die Chance auf echte Partizipation. Es ist ein Engagement, das meinem Leben einen neuen Sinn und eine neue Richtung gegeben hat.
Wir arbeiten, um zu verstehen, wie Armut von Generation zu Generation weitergegeben wird, was der tägliche Kampf für die Menschen ist, die diese Armut erleben. Mit meinem Erfahrungswissen der Armut, der Marginalisierung und der Ausgrenzung, kann ich in bescheidenem Masse zu dieser Forschung beitragen.
Diese Vision kann national, aber auch persönlich sein. Jede Person hat ihre eigenen Ambitionen und Pläne. Wir müssen ihr zuhören und sie verstehen. Ihre Zukunftsvision wurde verstümmelt oder ignoriert. Diese Ignoranz ist ein Fluch für unser Land. Wir müssen alles tun, um sie zu bekämpfen. Die Geschichte hat uns die Fehler der Vergangenheit gezeigt und diese dürfen nicht mehr wiederholt werden.
Eine echte Partizipation, die keine Alibipartizipation ist, ermöglicht es, Veränderungen herbeizuführen, damit sich die Ungerechtigkeiten der Armut nicht an unseren Kindern wiederholen. Vielleicht mag ich die Messlatte etwas hoch legen. Aber ich glaube, dass wir diese Ambition haben können, das Bewusstsein zu wecken und unser Land politisch zu verändern.
Alain Meylan, Aktivist ATD Vierte Welt
Übersetzung von Blandine Schmidiger
Die drei Fotos wurden während der zweisprachigen nationalen Wissenswerkstatts aufgenommen, die am 19. und 20. November 2021 im Rahmen des Projekts „Armut – Identität – Gesellschaft“ in Treyvaux stattfand.