Der tägliche Kampf der Ärmsten

Den täglichen Kampf der Ärmsten in Geschichte und Gegenwart sichtbar

Ihn in Geschichte und Gegenwart sichtbar machen

Wie konnte es in einem Rechtsstaat wie der Schweiz dazu kommen, dass Menschen durch behördliche Verfügung, ohne Rekursmöglichkeit in Anstalten versorgt oder gar ins Gefängnis gesperrt wurden? Wie konnte diese massive Grundrechtsverletzung als normal gelten? Was können wir heute tun, um die Grundrechte für alle zu schützen?

Die unabhängige Expertenkommission (UEK) Administrative Versorgungen lädt mit ihren Veröffentlichungen dazu ein, diese Fragen in der breiten Öffentlichkeit zu diskutieren. ATD Vierte Welt setzt sich dafür ein, dass in diesem Dialog niemand übergangen wird.

Die Reportage „Pauvre mais pas fou“ (Arm aber nicht verrückt) in der Sendung Temps présent vom 21. März auf RTS1 war eine Hommage an den Mut der Menschen, die noch bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts in psychiatrische Kliniken gesperrt oder Medikamententests unterworfen wurden, obwohl sie gar nicht krank waren. Eine Hommage auch an den Mut mancher Pflegepersonen, die sich schon damals weigerten, sie als Geisteskranke zu behandeln. Der Fernsehjournalist Raphael Engel geht der Geschichte von Nelly Schenker nach und situiert ATD Vierte Welt als „eine Bewegung, welche die Ärmsten zum Sprechen befreit.

Tiefe und engagierte Gespräche

Auch die Vorführungen des Dokumentarfilms „was ist aus uns geworden“ lösten jedesmal tiefe und engagierte Gespräche aus. Sie drehten sich um die Frage: Welche Art von Begegnungen und langfristigen Beziehungen braucht es, um zerstörtes Vertrauen neu aufzubauen ? Nach der Vorpremiere am 11. Oktober war der Film dieses Jahr schon in Delémont, Freiburg und Bulle zu sehen.

Im Rahmen einer Führung durch die Ausstellung der UEK „Ausgegrenzt & weggesperrt“, am 1. Juni auf dem Bahnhofplatz in Freiburg, präsentierten Mitglieder von ATD Vierte Welt die wichtigsten Erkenntnisse der Arbeitsgruppe „Geschichte erforschen für die Zukunft der Kinder“. Sie hat sich zwischen 2014 bis 2018 an der von der Regierung in Auftrag gegebenen historischen Aufarbeitung beteiligt. Nun legt sie eine kleine Broschüre mit sechs Fragen vor, um den Dialog fortzuführen und auszuweiten, denn „Unsere Geschichte muss den kommenden Generationen nützen, damit sich etwas ändert.“

Ein Seminar in Treyvaux, am 10. November 2018, hat eine Bilanz dieser Arbeit gezogen und aufgezeigt, was einen echten Dialog zwischen Wissenschaftlern und Menschen, die Armut und Ausgrenzung aus Erfahrung kennen, begünstigt. Eine Historikerin unterstrich die Bedeutung der Expertise der direkt Betroffenen:

„In dem Material, das wir als Historiker bekommen, ist der Gesichtspunkt der Betroffenen oft weniger sichtbar als der Gesichtspunkt der Behörden, der Leute, die diese Internierungen bewirkt haben. Sehr schnell lag es für uns auf der Hand, dass wir die betroffenen Menschen als Experten befragen wollten. Sie können uns nämlich dazu bringen, uns mit Themen auseinanderzusetzen, auf die wir selber nie gekommen wären.“

Der Schlussbericht der UEK Administrative Versorgungen zuhanden des Bundesrates wird im September erscheinen. Er enthält die wissenschaftliche Synthese, die Empfehlungen der Unabhängigen Expertenkommission sowie Texte von betroffenen Personen, darunter den Beitrag der Bewegung ATD Vierte Welt. Wir sind gespannt!

Marie-Rose Blunschi
Caroline Petita
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