Wir lernen in der Begegnung mit den anderen

Es wurde nicht nur diskutiert während dieser Werkstatt! Treyvaux, Juli 2023.

Sommer für Sommer empfängt das nationale Zentrum von ATD Vierte Welt in Treyvaux Jugendliche und junge Erwachsene zur Teilnahme an der Werkstatt ATD Entdecken. Diesen Juli sind es vierzehn junge Leute im Alter zwischen 18 und 30 Jahren, die sich mit Mitgliedern unserer Bewegung für eine Woche zusammenfinden, um ihr Verständnis von Armut zu erweitern und zu differenzieren, und sich darüber auszutauschen. Zoé Rousseau, Arno Blanchoud und Aurélien Mazzocato waren dabei. Alle drei sind in Ausbildung – Zoé in Sozialpsychologie, Arno in Tiermedizin und Aurélien in Sozialarbeit – und sie berichten über die Denkanstösse und ihre Erkenntnisse.

Arno

Dieser erste Kontakt mit ATD hat mich überwältigt. Zu viele Menschen haben ein falsches, herabsetzendes Bild der Armut – zum Beispiel durch unsere Vorstellung der Obdachlosigkeit. Ich wusste bisher nicht, dass das Spektrum viel diverser ist und weit darüber hinausgeht – dass die Prekarität viele Menschen betrifft und dass sie oft wenig sichtbar ist.

Zoé

Durch mein Studium hatte ich eine gewisse theoretische Kenntnis von Armut. Aber ich war nicht auf diese Komplexität gefasst, die der Situation der Prekarität tatsächlich innewohnt. Es ist mir erst jetzt bewusst geworden, dass Armut nichts mit persönlicher Verantwortlichkeit zu tun hat – es ist doch keinesfalls so, dass die Menschen vorsätzlich in Armut geraten!

Aurélien

Man begnügt sich damit, eine Familie als arm zu bezeichnen, weil die Eltern keine Lohnarbeit verrichten, und das wird als ihr Versagen angesehen – obwohl es ein Konglomerat von verschiedenen Ursachen ist, die dazu führen können, sich in einer prekären Situation wiederzufinden.

Zoé

Früher hatte ich die Tendenz, mir die Armut als eine Abfolge von Einzelfällen vorzustellen. Aber was ich hier erfahren habe, ist, dass es auch auf internationaler Ebene viele ähnliche Situationen gibt und Muster, die sich fortsetzen. Dank dieser Werkstatt realisiere ich, in welchem Mass die Behandlung von reich und arm verschieden ist – und dass dies so ist, weil man nicht will, dass sich etwas ändert. Das ist sehr schmerzhaft, denn man könnte sehr wohl anders handeln. Mir ist ebenso klar, dass wir in Bezug auf Elend völlig ignorant sind – und ich schäme mich dafür.

Aurélien

Eine Aktivistin von ATD Vierte Welt berichtete uns, wie sie misshandelt wird, all die Gewalt die sie durch die ErzieherInnen und durch das System als Ganzes erfährt. Das hat vieles in Frage gestellt, was mein Studium und meine Ausbildung betreffen. Was wir im Unterricht hören, mag schön und gut sein – die Theorie, dass man die Familiensituation berücksichtigen muss, das Positive betonen soll und all das… Aber sie erlebt nichts von alldem; sie erlebt Tiefschläge ohne Ende. Es ist ziemlich verstörend sich sagen zu müssen, dass, wenn ich nicht sehr gut aufpasse, ich in einigen Jahren ein Erzieher sein könnte, der nicht auf die Bedürfnisse von Eltern eingeht und der damit zerstörerisch wirken kann in seinem Beruf.

Arno

Folgende Frage habe ich mir während dieser Woche immer wieder gestellt: Was kann ich in meinem eigenen Bereich dazu beitragen? Eine Antwort habe ich noch nicht gefunden – aber es ist eine der Fragen die ich von hier mitnehme und mit der ich mich weiter befasse. Mein Blick auf Menschen in Armut hat sich bereits erheblich verändert.

Zoé

Man hat viel zu lernen in der Begegnung mit dem Andern. Solange wir in unserer Ecke sitzen bleiben, aus Furcht, den andern nicht verstehen zu können, wird man nicht handeln wollen.

Im Studium wird viel von Armut gesprochen, von Gesundheit, von Geschlechterrollen, von so viel wird gesprochen und ich habe den Eindruck, dass die Menschen in prekären Lebensumständen intersektional sind, was die wichtigsten sozialen Fragen betrifft. Was mir schwerfällt im Studium, ist der leider nur theoretische Ansatz. Hier in dieser Werkstatt wird mir bewusst, dass ich nicht weiter das tun kann, wie bisher, wenn ich nicht auf die Menschen zugehe. Das würde nichts nützen. Ich muss und will auf andere Menschen zugehen – um zu erfahren, wovon ich rede, um wenigstens mit einem Bein in der Realität zu stehen.

Aussagen durch Perry Proellochs, Redaktor ATD Vierte Welt, aufgezeichnet

Übersetzung von Susanne Privitera