Rückblick auf den 17. Oktober 2021

Marie-Rose Blunschi in Naila

Marie-Rose Blunschi (im Vordergrund) in Naila anlässlich des 17. Oktober 2021. © Marie-Luise Reif

Marie-Rose Blunschi ist ständige Volontärin und Archivarin von ATD Vierte Welt im nationalen Zentrum in Treyvaux. Am 17. Oktober 2021 sprach sie in Naila, Deutschland, im Rahmen einer Veranstaltung zum Welttag zur Überwindung der Armut.1 Das von den Vereinten Nationen für diesen Tag gewählte Thema lautete „Gemeinsam die Zukunft gestalten: Anhaltende Armut beenden – alle Menschen und unsere Erde respektieren!“. Es bleibt natürlich aktuell und wir geben hier ihre Rede wieder – zur Einstimmung auf das Thema, das ATD Vierte Welt Schweiz für den kommenden 17. Oktober gewählt hat: „Stopp der Diskriminierung aufgrund von Armut!“.

Armut in all ihren Dimensionen und überall beenden. Dieses Ziel hat sich die internationale Staatengemeinschaft mit der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung gesetzt.

Die verborgenen Dimensionen der Armut

Lange Zeit wurde gesagt: Die Armut bei uns ist etwas ganz anderes, als die Armut im Süden, in der so genannten „Dritten Welt“. Heute sehen wir das anders, auch dank der Zusammenarbeit von Menschen aus Nord und Süd: Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, Fachpersonen aus verschiedenen Berufssparten und Menschen, die Armut aus eigener Erfahrung kennen. Eine weltweite Studie von ATD Vierte Welt und der Universität Oxford über „Die verborgenen Dimensionen der Armut2 hat gezeigt:

Der innere Kern der Armutserfahrung ist überall derselbe – Leiden an Körper, Geist und Seele, aber auch Kämpfen und Widerstehen und eng mit beidem verbunden die Erfahrung, dass einem die Handlungsmacht entzogen wird. 

Zu diesem Kern der Armutserfahrung kommen weitere Dimensionen auf der Ebene der Beziehungen (soziale Misshandlung, institutionelle Misshandlung und Nicht-Anerkennung der eigenen Leistungen) und auf der Ebene der Entbehrungen (materielle und soziale Benachteiligung, unzureichendes und unsicheres Einkommen und Mangel an menschenwürdiger Arbeit).

Heute, am 17. Oktober, sind wir mit Menschen in aller Welt verbunden, die sich dafür einsetzen, die Armut der „Vierten Welt“ zu beenden. Was ist diese „Vierte Welt“? Joseph Wresinski, der Gründer der internationalen Bewegung ATD Vierte Welt, der selber in tiefer Armut aufgewachsen ist, hat es einmal so gesagt: „Die Vierte Welt, das sind Menschen, die in äusserster Armut, im Elend, leben und die überzeugt sind, dass das Elend nicht unabänderlich ist.“

Nein, das musst du nicht!

Im Film We, the Fourth World [Wir, die Vierte Welt]3 formuliert es Emma Speaks, ATD-Aktivistin in New York ganz ähnlich: „Man darf niemals aufgeben. Das Schlimmste, was du denken kannst, ist: Egal, was ich mache, ich komme nie irgendwohin. Ich muss das Ungeziefer, den Abfall akzeptieren… Akzeptieren, akzeptieren… Nein! Nein, das musst du nicht. Deswegen sage ich, dass es so wichtig ist, dass du die Chance bekommst, dich auszudrücken, damit die anderen dich hören, wie hier, bei der ATD Vierte Welt Bewegung. Und jeder versucht, etwas zu machen, damit wir vorankommen.“

In der Bewegung ATD Vierte Welt schliessen sich armutsbetroffene Menschen zusammen mit Menschen aus allen Gesellschaftsschichten, die diese Überzeugung teilen. Das Motto dabei: ATD Vierte Welt – All Together in Dignity – Gemeinsam für die Würde aller. Der 17. Oktober, Welttag zur Überwindung von Armut und Ausgrenzung, wurzelt in dieser Bewegung. Er wurde 1987 aus Anlass ihres dreissigjährigen Bestehens erstmals begangen und fünf Jahre später von der UNO anerkannt.

Donald Lee war UNO-Funktionär in New York, als er im Jahr 2000 die Bewegung ATD Vierte Welt kennenlernte. Seither hat er sich bei der UNO dafür eingesetzt, dass der ursprüngliche Sinn des 17. Oktobers geachtet wird. Er hat erreicht, dass die UNO die direkt von Armut betroffenen Menschen konsultiert, wenn sie das Thema des Internationalen Tages der Bekämpfung der Armut festlegt.

Die Armutsbetroffenen miteinbeziehen

Im Film unterhält er sich darüber mit Emma Speaks, im Treff von ATD Vierte Welt in New York. Er erklärt: „Erst mit den Zielen für nachhaltige Entwicklung wurde bei der UNO das Gewicht darauf gelegt, niemanden zurückzulassen und auf Teilhabe.

Sie sind auf die Idee von Joseph Wresinski zurückgekommen: Wie soll man Armut überwinden können, ohne die Betroffenen miteinzubeziehen?“

Donald Lee fährt fort: „Die UNO betrachtete die Armut als ein Problem. Was der 17. Oktober aber hervorhebt, sind die Menschen dahinter. Wenn sich die Leute nicht frei fühlen, als Teil der Gesellschaft, werden sie nie aus der Armut herauskommen. Wenn du anfängst, Menschen zu befragen, die in Armut leben, dann findet ihre Sicht der Armut Eingang in die Diskussion.“

Auch das 2021 Motto wurde zusammen mit direkt von Armut betroffenen Menschen und Organisationen, bei denen sie sich aus freier Entscheidung äussern und engagieren, gefunden: „Gemeinsam die Zukunft gestalten“. Für Menschen, die Armut seit Generationen kennen, kann es nicht darum gehen, einfach den Zustand vor der Covid-Krise wiederherzustellen. Wir müssen vielmehr die „anhaltende Armut beenden“, damit sich die Ungerechtigkeit nicht länger von Generation zu Generation wiederholt.

Wir haben eine Stimme!

Bevor wir zu Emma Speaks und Donald Lee nach New York gehen, führt uns der Film in ein Armenviertel in Trenton, New Jersey. Tina, ATD Vierte Welt Aktivistin, unterhält sich dort mit Eugen Brand. Er war bis 2012 Generaldelegierter der Internationalen Bewegung Vierte Welt. Tina erinnert uns daran, was uns heute zusammenführt: „Wir, die armen Leute, wir haben eine Stimme! Ich habe das Recht, zu sprechen. Alle Menschen, die in Armut leben, müssen aufstehen und schreien. In der Schweiz, in Honduras, in Guatemala oder Afrika. Wir müssen alle mitmachen und es in allen Sprachen sagen, den Politikern, den Regierungen, den Parlamenten: Wir haben eine Stimme!“

Marie-Rose Blunschi, ständige Volontärin und Archivarin im nationalen Zentrum in Treyvaux

1. Eine Dokumentation dieser Veranstaltung im pdf-Format stellen wir Ihnen auf Anfrage gerne zu.

2. Der ausführliche Schlussbericht ist auf Englisch und Französisch verfügbar. Seine Zusammenfassung (executif summary) können Sie hier auf Deutsch herunterladen.

3. Der Film ist einer der 14 Kurzfilme auf der USB-Box mit dem Titel WAS IST AUS UNS GEWORDEN. Diese USB-Box ist in unserem Online-Shop erhältlich. Bei der Veranstaltung wurde ein Ausschnitt (Minuten 17:28 – 25:00) gezeigt.