Im Fokus der Humanwissenschaften

Im Fokus der Humanwissenschaften

Drei Studien im Bereich der Zeitgeschichte und der Sozialen Arbeit sowie ein Tagungsbericht werden hier vorgestellt. Sie würdigen das Wirken der Bewegung ATD Vierte Welt aus unterschiedlichen Blickwinkeln.

Menschenwürde – Menschenrechte – Soziale Arbeit: Die Menschenrechte vom Kopf auf die Füsse stellen, von Silvia Staub-Bernasconi

Dieses Buch enthält eine Fülle von Informationen und Denkanstössen für alle, die sich in ihrem Beruf und in der Gesellschaft an der Menschenwürde und den Menschenrechten orientieren und angesichts von Elend und sozialer Ausschliessung nach Lösungen suchen. Auf 40 Seiten beschäftigt sich die Autorin mit ATD Vierte Welt. Anhand von sechs Fallgeschichten aus Frankreich und aus der Schweiz zeigt sie auf, wie gesellschaftlich ausgeschlossene Menschen mit Unterstützung dieser Bewegung versuchen „die sozialen Spielregeln der Machtstruktur zu verändern“ (Seite 370), und was Soziale Arbeit daraus lernen kann. Die Fallgeschichten sind der Studie Artisans of Democracy (Handwerker der Demokratie) entnommen und werden durch ausführliche Zusammenfassungen nun auch in deutscher Sprache zugänglich.

Jenseits der Exklusion. Lernen vom Erfolg – Auf dem Weg zur Gegenseitigkeit, von Jona M. Rosenfeld

Jona Rosenfeld war Professor für Soziale Arbeit an der Hebräischen Universität Jerusalem. Im Rückblick auf seine persönliche Lernbiographie schildert der 97-jährige, wie sich die Methode «Lernen vom Erfolg» entwickelt hat, und setzt verschiedene Ansätze zur Überwindung von Exklusion miteinander in Beziehung. Dabei berichtet er auch von seiner ersten Begegnung mit Joseph Wresinski, 1970 in Biel, und von verschiedenen internationalen Seminaren in Zusammenarbeit mit ATD Vierte Welt. Er schildert die Entstehung zweier Studien: Emergence from extreme poverty, über die Partnerschaft zwischen in Armut lebenden Familien und ständigen Volontären sowie  Artisans of Democracy (Handwerker der Demokratie) über das Wirken von Verbündeten zur Überwindung von Ausgrenzung in gesellschaftlichen Institutionen.

Neue Armut, Exklusion, Prekarität. Debatten um Armut in Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland, 1970-1990, von Sarah Hassdenteufel

Diese historische Studie vergleicht die Entwicklung der Armutsdebatte in zwei europäischen Ländern: In den 1970er Jahren war Armut weder in Frankreich noch in Deutschland ein politisches Thema. In den 1980er Jahren entstand eine Debatte über «die neue Armut» bzw. «die neue soziale Frage». In Frankreich wurde Armut schon damals unter dem Stichwort «Exklusion» als Frage des gesellschaftlichen Zusammenhalts thematisiert. Die Debatte führte zu grundlegenden politischen Veränderungen und schliesslich 1998 zu einem Orientierungsgesetz. Dies im Gegensatz zu Deutschland, wo Armutsbekämpfung in der untersuchten Periode überhaupt nicht als Kategorie der Sozialpolitik auftaucht. Die Autorin beschäftigt sich eingehend mit der Rolle von ATD Vierte Welt in diesem Prozess und bezieht auch Archivmaterial aus dem Joseph-Wresinski-Zentrum mit ein. Eine interessante Beobachtung ist, dass die öffentlichen Gelder, die ATD Vierte Welt in den 80er Jahren im Rahmen europäischer Programme zur Armutsbekämpfung erhielt, für die Bewegung keinen «goldenen Käfig» darstellten, sondern es ihr im Gegenteil ermöglichten, ihre politischen Forderungen durch Projekte in größerem Maßstab voranzubringen: So bereitete die dreijährige Erprobung eines garantierten Einkommens mit armutsbetroffenen Familien in Rennes den Weg zur Einführung des Eingliederungsmindesteinkommens RMI in Frankreich.

Ein Interview mit Sarah Hassdenteufel ist auf der Webseite von ATD Vierte Welt Deutschland zu finden.

Rethinking our world from the perspective of poverty with Joseph Wresinski, herausgegeben von Bruno Tardieu und Jean Tonglet

Dieses Buch in englischer Sprache beruht auf den Ergebnissen der Tagung von Cerisy, die im Juni 2017 anlässlich des hundertsten Geburtstags von Joseph Wresinski stattfand. Während einer Woche haben Akademiker, Praktiker, Künstler und in Armut lebende Menschen aus fünf Kontinenten miteinander über unsere Welt nachgedacht. Ihre Beiträge, die auf Wresinskis Ansatz basieren, eröffnen neue Wege für Forschung und Praxis, die unseren Erkenntnissen über die Ungerechtigkeit der Armut Rechnung tragen. Zwei Beiträge setzen sich mit der historischen Aufarbeitung der Gewalt an Armen in der Schweiz auseinander.
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Marie-Rose Blunschi Ackermann