Die UNESCO würdigt den Beitrag der Ärmsten zur Geschichte der Menschheit

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Aquarell: Das Joseph-Wresinski-Zentrum in Baillet (Frankreich) © ATD Vierte Welt

Die UNESCO hat die Archive der Bewegung ATD Vierte Welt in das Weltdokumentenerbe «Memory of the world» (Gedächtnis der Menschheit) aufgenommen.

Heute steht die UNESCO erneut an vorderster Front eines Kampfes, der seit den Anfängen von ATD Vierte Welt von grundlegender Bedeutung ist: Die Ausblendung der Ärmsten in der Geschichte anzuerkennen und konkret ein Archiv ihres Beitrags zur Menschheit aufzubauen.

Mit der Aufnahme der Archive von ATD Vierte Welt in das Weltdokumentenerbe erkennt die UNESCO den wertvollen und zerbrechlichen Beitrag der Ärmsten zur Geschichte der Menschheit an. Seit gut 65 Jahren vertrauen Menschen in äusserster Armut und Menschen, die sie unterstützen, ATD Vierte Welt Dokumente ihres Lebens und ihres Einsatzes an. Der UNESCO-Exekutivrat hat nun beschlossen, diese Archive in das internationale Register «Gedächtnis der Menschheit» aufzunehmen.

Ziel dieses Registers ist es, aussergewöhnliche, zerbrechliche und wertvolle Archive zu schützen und anerkennen zu lassen, um das Gedächtnis der Menschheit zu bewahren und ihre Geschichte zu schreiben. Es ist neben dem Welterbe (Kultur- und Naturgüter) und dem immateriellen Kulturerbe (lebendige Traditionen) der dokumentarische Teil des Erbes der Menschheit.

Das vom Archiv- und Forschungszentrum Joseph Wresinski und ATD Vierte Welt Burkina Faso erstellte Dossier wurde der UNESCO von zwei Ländern vorgelegt: Frankreich, dem Gründungsort von ATD Vierte Welt im Jahr 1957, und Burkina Faso, dem ersten afrikanischen Land, das 1980 die Teams von ATD Vierte Welt einlud, sich seinen Bemühungen zur Bekämpfung der Armut anzuschliessen.

Der vorgelegte und heute im Internationalen Register «Gedächtnis der Menschheit» eingetragene Archivbestand ist gemäss der geltenden Regel zeitlich begrenzt: von der Gründung im Notunterkunftslager, 1957, bis zur Anerkennung des 17. Oktober als Internationaler Tag für die Beseitigung der Armut, 1992. Er wächst aber weiter mit den Archiven, die Tag für Tag von den Teams von ATD Vierte Welt gesammelt werden. Auch einige der im Forum zur Überwindung der Armut vernetzten Vereinigungen vertrauen ATD ihre Archive an.

ATD Vierte Welt und die UNESCO: eine lange und fruchtbare Geschichte

Die Geschichte von ATD Vierte Welt mit der UNESCO ist lang und fruchtbar. Im Mai 1961 fand bei der UNESCO das erste internationale Kolloquium statt, das von ATD Vierte Welt organisiert wurde, die vier Jahre zuvor im Obdachlosenlager in Noisy-le-Grand entstanden war.

Im Februar 1964 wurde auf einem zweiten Kolloquium mit dem Titel „Unangepasste Familien und menschliche Beziehungen“, ebenfalls bei der UNESCO, die Vorstellung kritisiert, dass die Ursache der Armut in der Unangepasstheit an den Fortschritt liege, und zum ersten Mal das Paradigma der sozialen Ausgrenzung (Exklusion) geprägt, das seitdem um die Welt gegangen ist.

Im Dezember 1980 hielt Joseph Wresinski bei der UNESCO einen Vortrag mit dem Titel „Das Denken der Ärmsten – damit Erkenntnis zum Einsatz motiviert“. Er stellte fest, dass das wissenschaftliche Wissen über die Armut ohne das Wissen, das die Ärmsten über ihre Lage aufbauen, unvollständig ist. Damit legte er den Grundstein für den Ansatz „Wissen-Kreuzen mit Menschen in Armut und sozialer Ausgrenzung“, der heute von Akademikern, Aktionsteams und von Armut betroffenen Menschen in verschiedenen Teilen der Welt bearbeitet und umgesetzt wird.

Seit den 1970er Jahren und bis heute ist ATD Vierte Welt Partner der UNESCO, um zu den Programmen „Bildung für alle“ und „Friedenserziehung“ beizutragen.

Einige Auszüge aus dem Bewerbungsdossier, das bei der UNESCO eingereicht wurde (auf Französisch)

Dieser Artikel ist am 9. Juni 2023 unter dem Titel «Les plus pauvres entrent dans l’histoire» (Die Ärmsten treten in die Geschichte ein) auf der Website von ATD Vierte Welt International erschienen und wurde redaktionell leicht bearbeitet.