Kunst – Ungerechtigkeiten zum Ausdruck bringen

Bild gemalt von Adiam Yemane, 2021-2022

Bild gemalt von Adiam Yemane, 2021-2022

Die von ATD Vierte Welt organisierte Aktion „Kunst auf der Strasse“ belebte Rorschach vom 25. Mai bis 16. Juni 2022. Mit Malerei und Zirkus wurde es möglich, Lebensgeschichten auszudrücken und mit anderen zu teilen. Adiam Yemane, eine Frau aus Eritrea, die geflüchtet ist, beschreibt hier die Umstände, die ihr Bild „Menschen auf der Flucht“ inspiriert haben. Anschliessend berichtet die Theatergruppe La Soupape über ihr Stück „Die Schönheit unserer wackeligen Leben“. Zwei sehr unterschiedliche Wege, die sich vereinen, um Ungerechtigkeiten zu thematisieren.

Dieses Bild ist unsere Geschichte

Dieses Bild ist die Geschichte meiner Familie, meiner Nachbarn, unzähliger Menschen, die aus unserem Land geflohen sind. Ich liebe Eritrea zutiefst. Doch aufgrund des Krieges und der Politik, die Elend erzeugen, mussten wir aus diesem Land fliehen. Und zwar illegal. Wie so viele andere bin ich in der Nacht zu Fuss bis in den Sudan gelaufen und dann mit dem Flugzeug in die Schweiz geflohen. Die meisten reisen durch den Sudan und Libyen.

Viel Gewalt

Es ist sehr gefährlich. Das fehlende Wasser, die Hitze, die Gewalt. Und wenn man kein Geld mehr hat, sitzt man fest. Man muss die Schlepper bezahlen, deren einziges Ziel es ist, sich zu bereichern. Wenn jemand in der Wüste aus dem Auto fällt, wird nicht angehalten. Wasser wird mit Benzin gemischt, damit man weniger davon trinkt – weniger Wasser bedeutet mehr Platz für Reisende und damit mehr Geld. In Libyen wird man eingesperrt, bis man die Überfahrt nach Italien bezahlen kann. Man lebt mit vielen anderen Menschen unter schrecklichen Bedingungen. Viele sterben einfach so, an Krankheiten, an Unterernährung, aufgrund der Brutalität.

Zudem findet die Überfahrt in kleinen, überfüllten Booten statt. Es stehen nur wenige Rettungswesten zur Verfügung. Über Bord zu fallen bedeutet zu sterben. Meine Nachbarin und ihre drei Kinder sind auf diese Weise ertrunken. Unser Blut ist mit dem Wasser des Mittelmeers vermischt.

Es befreite mich

Man ist erst sicher, wenn man in Europa angekommen ist. Hier bin ich in Sicherheit. Die Schweiz ist meine zweite Heimat. Diese Geschichte werde ich nicht vergessen können. Aber es hat mir geholfen, diese Bilder mit dem Künstler Guendouz Bensidhoum zu malen. Dieses Werk war eine Befreiung.

Adiam Yemane, ATD Vierte Welt Mitglied in Rorschach

Wir sind die Theatergruppe La Soupape. Wir haben unser Stück dreimal in Stadtteilen von Rorschach aufgeführt. Es liegt uns am Herzen, an Orten zu spielen, die eigentlich keine Veranstaltungsorte sind: So wird Kultur für alle zugänglich. Es gibt keine Elitekultur. Die Kultur der Strasse ist genauso wertvoll wie die Kultur, die in den Theatern angeboten wird.

Eine Metapher für Armut

In dem Stück geht es um drei Frauen auf Stelzen, die mit einem Fiat Panda auf Reise gehen. Der Umstand, dass sie auf Stelzen gehen, macht die Welt, in der die Szene spielt, ungeeignet. Es stellt eine Metapher für Armut dar, zu dritt auf Stelzen in ein sehr kleines Auto einsteigen zu wollen. Wenn wir auf Stelzen laufen, ist die Welt nicht mehr für uns geeignet.

Die Begegnung mit der Bewegung ATD Vierte Welt war sehr interessant. Die Aktion, zwei Künste wie Malerei und Theater im öffentlichen Raum zu vermischen, hat sehr gut funktioniert – und wir sind sehr stolz darauf, dabei gewesen zu sein. Die Leute bewunderten unsere Stelzen, wenn wir ihnen auf der Strasse begegneten! Und vor allem hatten wir das Gefühl, dass wir Menschen erreichten, die normalerweise keine Shows besuchen.

Léa Kehl, Bérénice Renaud und Jeanne Zion, Cie Soupape, Strassenshow (https://lasoupape.hotglue.me)

Angepasst von Perry Proellochs, Redakteur ATD Vierte Welt

Übersetzung von Petra Lackner