Gemeinsam lernen und vorankommen
Nachdem ich fünfeinhalb Jahre als ständige Volontärin von ATD Vierte Welt in Madrid gearbeitet habe und anschliessend während eines Sabbatjahres in Ökodörfern in Spanien nach neuen Formen gemeinschaftlichen Lebens suchte, bin ich nun wieder zurück in der Schweiz! In Genf und Madrid, in der Schweiz und in Spanien konnte ich durch meinen Einsatz in der Bewegung feststellen, wie sehr die am meisten ausgegrenzten Menschen ständig mit verschlossenen Türen, rechtlosen Situationen und Demütigungen konfrontiert sind und wie schwierig es für Menschen aus unterschiedlichen Milieus ist, sich zu treffen und auszutauschen.
Brücken bauen
Ich erkenne mich im Gesellschaftsmodell der Bewegung wieder: Eine Welt, in der wir voneinander lernen und in der wir in einer Solidarität vereint sind, die wir gemeinsam aufbauen. Während meines Sabbatjahres habe ich solche Menschen kennengelernt: Sie bauen gemeinsam andere Lebensweisen auf, als Selbstversorger und mit Respekt vor der Erde und den Mitmenschen. Dennoch fühlte ich mich gleichzeitig sehr deutlich in einer ultraprivilegierten Blase, die nicht für alle zugänglich ist… Diese Erkenntnis, dass es eine Welt mit zwei unterschiedlichen Geschwindigkeiten gibt, hat mich darin bestärkt, zu handeln und mich noch mehr zu engagieren, um Brücken zwischen diesen Welten und den Menschen, die sie bevölkern, zu bauen.
Gemeinschaft und Ökologie
Die ärmsten Menschen haben oft keinen Zugang zu diesen Orten, an denen ein gemeinschaftliches und nicht kapitalistisches Leben ausprobiert wird. Als ich in einen stigmatisierten Stadtteil von Genf mit Sozialwohnungen zog, wurde ich von meiner Wohnungsnachbarin mit offenen Armen empfangen. Sie freute sich sehr, die frisch gelandete „Neue“ zu treffen. Sie stellte mir sofort ihren Enkel vor, auf den sie fast jeden Tag aufpasst. Und zur Begrüssung hatte sie uns sogar einen Kuchen gebacken! Ich bin mir sicher, dass sie keine grossen Theorien darüber aufstellt, was es bedeutet, in einer Gemeinschaft zu leben. Es ist vielmehr etwas, das sie täglich ganz selbstverständlich lebt.
Ich erinnere mich, dass ich in Madrid einem Bekannten erzählt habe, dass ich in meinem Sabbatjahr grösstenteils ohne Strom gelebt hatte – freiwillig und weil ich die Möglichkeit hatte, mit Holz zu heizen. Dieser Bekannte erzählte mir wiederum, dass sein Alltag von Stromausfällen begleitet war und dass er im Winter, wenn er kein Geld für eine Gasflasche hatte, einfach nicht heizen konnte.
Diese beiden Begegnungen – wie auch viele andere – haben mich überzeugt, dass Menschen, die von Armut und Ausgrenzung betroffen sind, viel einzubringen haben und dass sie praktische Erfahrungen mit ökologischen und gemeinschaftlichen Lebensweisen haben. Und dass diese Erfahrungen es wert wären, geteilt und geschätzt zu werden.
Gemeinsam lernen und vorankommen
Beim Volontariat von ATD Vierte Welt steht eine doppelte Überzeugung im Mittelpunkt, die mich sehr berührt: Die Überzeugung, mit den Menschen, die ein Leben in Armut führen, eine Gemeinschaft zu bilden, und die Überzeugung, im Alltag gemeinsam voranzukommen. Aus diesem Beweggrund habe ich mich entschieden, mit meiner Familie in einem Arbeiterviertel in Genf zu leben. Um meine Suche nach Gemeinschaft und gemeinsamem Leben zu verankern und um mit den Menschen, deren Leben besonders schwierig ist, zu lernen und voranzukommen.
Aurélia Isoz, ATD Vierte Welt Genf ständige Volontärin
Übersetzung von Petra Lackner