Wissen-Kreuzen… am Radio!

Seit der Publikation 2023 des Berichts „Beziehungen zwischen Institutionen, der Gesellschaft und Menschen in Armut in der Schweiz: eine Gewalterfahrung, die weitergeht“, löst die Methode des Wissen-Kreuzens bei verschiedenen Institutionen, bei Fachleuten und WissenschaftlerInnen grössere Aufmerksamkeit aus. Worin besteht diese Vorgehensweise und was offenbart sie? Alain Meylan und Sophie Guerry haben darüber im Radio RTS La Première debattiert. Ihre Äusserungen und Folgerungen finden sich hier.1

Begegnung und Dialog ermöglichen

Zwischen 2019 und 2023 haben sich Fachleute, WissenschaftlerInnen und Personen mit Armutserfahrung im Rahmen des Projekts „Armut – Identität – Gesellschaft“ (AIG) getroffen. Dabei haben sie darüber gesprochen, was es bedeutet, heute in der Schweiz in Armut zu leben, haben die manchmal konfliktbeladenen Beziehungen zwischen den Institutionen und den von Armut betroffenen Menschen beleuchtet und thematisiert wie die Gesellschaft Armut wahrnimmt. Die Idee war auch, Ansätze für Veränderungen in Bereichen wie Recht, Arbeitsweise von Institutionen und Behörden aber auch der Medien herauszuarbeiten.

Wie das geht

Wissen-Kreuzen strebt an, alle Meinungen einzubeziehen. Das Wissen von Fachleuten und von WissenschaftlerInnen wird im allgemeinen hoch geschätzt, doch den von Armut Betroffenen wird oft kein Wissen zugetraut oder gar negiert, dass sie Wissen besitzen. Mit dieser Methode geht es nicht bloss darum die drei Arten von Wissen zusammenzufügen, sondern sie miteinander in Beziehung zu setzen und damit ein umfassenderes Wissen zu schaffen, das die Ungleichheiten der Gesellschaft nicht übernimmt. Ein Prinzip des Wissen-Kreuzens ist, dass die Diskussionen nicht zwischen einzelnen TeilnehmerInnen sondern zwischen Peergruppen (mit gleichen Erfahrungen) geführt werden. Eine Arbeitseinheit beginnt damit, dass sich die Leute in ihrer Wissensgruppe zusammensetzen. Das erlaubt den Teilnehmenden sich in einem sicheren Rahmen zu äussern, ihre Gedanken zu formulieren und die Vorgaben zu hinterfragen. Das bildet die Voraussetzung, um ein kollektives Wissen zu bilden. Erst in einem zweiten Schritt sitzen die Gruppen  aus den drei Wissensbereichen zusammen und setzen sich mit ihren kollektiven Ansichten auseinander. Dies ist der wichtigste Schritt beim Wissen-Kreuzen. Alle Teilnehmenden sind nun auf Augenhöhe. Dadurch erhalten insbesondere die Menschen mit Armutserfahrung, die sonst ihr Wissen nicht so einbringen können, die gleichen Chancen gehört zu werden wie die anderen Gruppen.

Die Wahrnehmung verändern

Diese Methode, bei der die Meinung aller berücksichtigt wird, ermöglicht es, anderes Wissen zu erschüttern, in Frage zu stellen und die Vorstellungen jeder Person von den Mitgliedern der anderen Peergruppen zu verändern. Ein Beispiel, das für sich spricht: für die Fachleute und WissenschaftlerInnen war es klar, dass man die Armut bekämpfen muss, um sie zu beenden. Die von Armut Betroffenen verstanden dies jedoch als Absicht, die Armut auf die Seite zu schieben, sie quasi zu verschleiern und damit einen Kampf gegen die in Armut Lebenden zu lancieren statt mit ihnen und für sie zu arbeiten.

Gemeinsam etwas verändern

Wissen-Kreuzen bedeutet den Menschen zuhören können, verstehen was sie sagen wollen. Es bedeutet, sich mit den Ansichten der anderen auseinanderzusetzen, die Türe offen zu halten, auch wenn man mit ihnen nicht immer einverstanden ist. Indem man die von Armut Betroffenen in den Dialog mit den Fachleuten und WissenschaftlerInnen einbezieht, kann man wirkliche Veränderungen erreichen.

  1. Sophie Guerry, assoziierte Professorin FH an der Hochschule für Soziale Arbeit Freiburg, und Alain Meylan, Aktivist von ATD Vierte Welt, nahmen am AIG-Projekt teil, die eine als Inhaberin von wissenschaftlichem Wissen, der andere als Inhaber von Erfahrungswissen über Armut. Am 13. Oktober 2023 haben die beiden die Methode des Wissen-Kreuzens in der Radiosendung „Tribu“ vorgestellt. Das ganze Interview kann auf www.atd.ch/de/ein-interview-zum-thema-wissen-kreuzen/ gehört werden (französisch). Wir danken RTS für die Erlaubnis zur schriftlichen Wiedergabe in dieser Zeitung und auf unserer Webseite.

Text bearbeitet von Romain Sanna, Masterstudent in globale Gesundheit an der Universität Genf und Praktikant bei ATD Vierte Welt

Übersetzung von Theres Bärtschi