Wie (re)agieren?

Jean-Marie Baeriswyl beim Sommerseminar 2024

Ein Moment der Entspannung oder der intensiven Reflexion? Jean-Marie Baeriswyl, Verbündeter von ATD Vierte Welt, während des Sommerseminars. © Jean-Luc Martrou / ATD Vierte Welt

Menschen mit Armutserfahrung die öffentlich über das Thema Armut sprechen (z.B. an Präsentationen an Hochschulen oder Veranstaltungen, an Podiumsdiskussionen oder Gespräche mit Medien) machen immer wieder die Erfahrung, dass ein solcher Auftritt mit vielen Herausforderungen verbunden sein kann. So haben Mitglieder von ATD Vierte Welt beispielsweise schon Situationen erlebt, bei denen der oder die ModeratorIn vor versammeltem Publikum zu sehr persönlichen Themen Auskunft haben wollte („Wieso wurde ihr Kind fremdplatziert?“) oder die Person mehr als Opfer denn als Experte eines Themas behandelt wurde. Wie also in solchen Situationen souverän reagieren? Wie kann man sich die nötige Sicherheit holen, um sich zu getrauen vor andere hinzustehen und als Experte des Themas öffentlich über das Thema Armut zu sprechen? Und wie können dadurch immer mehr AktivistInnen mit Armutserfahrung in der Gesellschaft, im täglichen Leben oder gegenüber Fachleuten oder Institutionen das Wort ergreifen, sich Gehör verschaffen und selbstbewusst in einen Dialog treten?

Selbstvertrauen und Auftrittskompetenz stärken

Vom 17. bis 20. Juli 2024 haben sich 16 AktivistInnen mit Armutserfahrung im nationalen Zentrum von ATD Vierte Welt in Treyvaux zu einem Sommerseminar zusammengefunden um diese und weitere Fragen zu vertiefen und sich gemeinsam weiterzubilden. Nach 2021 und 2022 war es das dritte Mal, dass ein solches Seminar stattgefunden hat. Ziel des Seminars war es, dass Menschen, die bereits in verschiedenen Kontexten in kleineren oder grösseren Rahmen öffentlich über Armut gesprochen haben, ihre Erfahrungen mit anderen austauschen, die Praxis trainieren und ihr Selbstvertrauen und ihre Auftrittskompetenz stärken können.

Bei einem Gruppenaustausch über Dinge, die herausfordernd sein können in öffentlichen Auftritten, hat sich die Wichtigkeit gezeigt, nicht nur aus persönlicher Erfahrung, sondern aus einem kollektiven Wissen heraus zu sprechen. Dieser Aspekt wurde daher dann auch im weiteren Verlauf des Seminars vertieft. Wie kann ich als RednerIn meine persönlichen Erfahrungen mit den kollektiven Erkenntnissen der nationalen oder internationalen Forschungsarbeiten von ATD Vierte Welt (z.B. Forschungsprojekt „Armut – Identität – Gesellschaft“ oder „Baustelle Familien“) verbinden und untermauern und trotzdem frei sprechen? Wie kann ich dies authentisch einem Publikum hinüberbringen, das oftmals wenig Berührung mit dem Thema Armut hat oder sich gar nicht mit dem Thema auseinandersetzen will? Und wie kann ich mich in einem Fragesetting bewähren, bei dem die Fragen auch mal beeinflussend oder persönlich sein können?

All diese Fragen wurden nach und nach während der vier Tage des Seminars vertieft. Zuerst auf theoretische Art in Gruppendiskussionen, anschliessend auf praktische Weise durch Rollenspiele in Zusammenarbeit mit einem eingeladenen Theaterpädagogen.

Kleine Teams

Eine wichtige Erkenntnis ist es, dass es hilfreich sein kann als kleine Teams aufzutreten – gerne auch mit unterschiedlichen Wissenshintergründen. Einerseits inhaltlich, um eine Thematik aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten zu können und sich mit den unterschiedlichen Wissen zu ergänzen. Andererseits aber auch um eine Präsentation dynamisch halten oder einander bei unangenehmen Fragen unterstützen zu können. Daher wurde zum Abschluss des Seminars der Kreis der TeilnehmerInnen ein wenig geöffnet und weitere Verbündete der Bewegung eingeladen, um in kleinen Teams eine reale Präsentation einzuüben und vor einem Testpublikum zu halten. An diesen Präsentationen war eindrücklich zu beobachten, welche Entwicklung die TeilnehmerInnen in diesen Tagen gemacht hatten und wie sie Geübtes gleich umzusetzen vermochten. Ein Teilnehmer mit Armutserfahrung hat es folgendermassen ausgedrückt: „Ich bin stolz auf uns alle, auf das was wir in diesen Tagen erarbeitet haben, wie wir ein eingeschworenes Team geworden sind. Die Zukunft ist gesichert.“

Michael Zeier, Verbündeter von ATD Vierte Welt

Übersetzung von Séverine Jörger