Widerstandskraft und Widerstand

„Widerstand und Widerstandskraft“ lautet eines der drei zentralen Themen, die in der im November 2023 publizierten Forschungsarbeit Für eine neue Sozialphilosophie. Die Transformation der Gesellschaft beginnt bei denen, die in Armut leben1 behandelt werden. Vier Kapitel behandeln aus unterschiedlichem Blickwinkel den Widerstand von und gegenüber Menschen, die von Armut betroffen sind. Der vorliegende Artikel stellt einige Auszüge daraus zusammen. Sie sollen die Forschungsergebnisse veranschaulichen, zum Nachdenken anregen und zum Dialog auffordern.

1) Armut verlangt unendliche Widerstandskraft

Menschen in Armut müssen ihr Leben lang Widerstandskraft aufbringen – und das von klein auf, denn ihre Würde wird in Frage gestellt und ihre Ehre auf jede nur erdenkliche Weise verletzt. Sie zeigen der Welt mit Entschlossenheit, dass Menschenwürde selbst dann besteht, wenn sie verweigert wird. Diese jeden Tag aufzubringende Widerstandskraft kann zur Erschöpfung führen. Die AktivistInnen von ATD Vierte Welt unter den Co-AutorInnen sprechen vom Konzept des Durchhaltewillens und der Durchhaltefähigkeit, welches für sie ihre Situation am ehesten beschreibt. Dieser allgegenwärtige Widerstand lässt sich an drei Kriterien festmachen.

Das Kriterium der Notwendigkeit. „Es ist wie bei Menschen, die ertrinken und deren Kopf unter Wasser gehalten wird – man hat keine Wahl  – Widerstand oder Tod.“ Davon sind die am meisten von Armut Betroffenen überzeugt, auch wenn sie wissen, dass es ihnen nicht immer möglich ist, Widerstand zu leisten  – und das ist einer der schrecklichsten Widersprüche, die sie aushalten müssen.

Das normative Kriterium. Auch wenn er nicht immer bewusst geleistet wird, bedeutet der Widerstand, dass ein unantastbarer Wert bekräftigt und eingefordert wird – die Menschenwürde. „Wir sind keine Hunde“, sagen die Opfer von Armut überall und zu allen Zeiten.

Das Kriterium der Belastung. Extreme Armut erfordert ständiges Bemühen, die dringendsten und gravierendsten Probleme in Bezug auf die wichtigsten Grundbedürfnisse zu lösen: unsichere Existenzgrundlagen, Wohnsituation, Ernährung, Krankheit, Schulbildung der Kinder; Schicksalsschläge, Entmutigung, die Auswirkungen der gesellschaftlichen Entwertung und Erniedrigung zu bewältigen; sich der Macht entgegenzustellen, die direkt oder indirekt ausgeübt wird, insbesondere jener Herrschaft, die die Eigeninitiative lähmt oder sogar bestraft.

Allein kann man diesen dauerhaften Widerstand nicht leisten. Man muss Beziehungen zu anderen Familien aufbauen, die mit denselben Schwierigkeiten zu kämpfen haben, und Kontakte herstellen zu anderen BürgerInnen, um sich verstehen zu lernen. Die Erfahrung der Bewegung ATD Vierte Welt zeigt, wie wichtig es für die Betroffenen ist, sich zu ihrer Geschichte des Widerstands zu bekennen, die ein ganzes soziales Milieu durchzieht.

Indem sie sich zunächst gegen die Gründe für ihre soziale Ausgrenzung wehren, zeigen die Betroffenen, dass sie eigenständige, gesellschaftliche Akteure sind und als solche anerkannt werden müssen. Ihre Widerstandshandlungen sind in der Tat Versuche, das Leben in der Gesellschaft inklusiver und gerechter zu gestalten, was der Gesellschaft als Ganzes zugute kommt.

2) Die Auseinandersetzung mit der Macht

Im Französischen wird der Begriff „pouvoir“ (Macht) gebraucht um zwei miteinander verwandte, aber doch unterschiedliche Sachverhalte und Konzepte zu benennen. Einerseits geht es um die Handlungsmacht, die wir benötigen, um Ziele zu erreichen, um Veränderungen durchzusetzen, um Erfindungen zu verwirklichen. Andererseits geht es um die persönliche Macht die Menschen über andere ausüben. Es geht um die Macht, über andere zu bestimmen, sie zu bestrafen, an ihrer Stelle Entscheidungen zu treffen und an deren Stelle zu beschreiben, was ihnen geschieht – und dabei zu behaupten, ihre Schilderungen seien angemessener. Hier geht es um die Macht, an ihrer Stelle zu sprechen. Menschen, die in Armut leben, sind mit dieser zweiten Form von Macht konfrontiert und das in verschiedenen, institutionellen Strukturen: in der Sozialarbeit und der öffentlichen Verwaltung, bei der Polizei, vor Gericht und in schulischen, medizinischen und psychosozialen Einrichtungen. Diese Formen der Machtausübung werden von den Betroffenen als Fremdbestimmung  wahrgenommen und führen zu Widerstand, denn die Machthabenden:

  • Hindern die Benachteiligten an einer selbstbestimmten Existenz;
  • wollen nicht wahrhaben, dass die Ärmsten über autonome Intelligenz verfügen, und verhindern, dass diese Intelligenz als solche erkannt und angesprochen wird;
  • stützen sich auf verzerrte Vorstellungen und falsche Vorurteile, die über Menschen in prekärer Existenz kursieren.

3) Formen des Widerstandes

Der Widerstand gegen die Macht zeigt sich a) durch Worte oder Handlungen, b) durch das Einhalten oder umgekehrt das Überschreiten bestimmter gesellschaftlicher Regeln und c) durch offensichtliche oder innere Standhaftigkeit. Manifestationen des Widerstands, ob grenzüberschreitend oder nicht, werden von Worten begleitet. Wenn es jedoch darum geht, sich gegen jene Macht zu wehren, „für andere zu beschreiben, was er oder sie erlebt, an deren Stelle zu denken und zu entscheiden“, ist das Sprechen an sich bereits ein Akt des Widerstands.

4) Herausforderungen und Grenzen des Widerstandes

Der Widerstand ist ein Mittel, um die eigene Würde zu wahren, um Erniedrigungen zurückzuweisen und zu signalisieren, dass man sich nicht auf die Vorstellungen der andern reduzieren lässt. Widerstand ist ebenso ein Mittel, unsere Durchsetzungskraft zu zeigen und uns zu weigern, lediglich Opfer von Sachzwängen zu sein und von dem, was man uns zumuten will – und das, indem man entweder an unserer Stelle Entscheidungen trifft oder uns mit Sanktionen droht. Diese existentielle Herausforderung gilt sowohl für das Leben jedes Einzelnen als auch für die Überlieferung an die nächste Generation. In diesem Sinn kann von einer „Kultur des Widerstands“ gesprochen werden.   

Eine erste Gefahr besteht darin, dass der »Widerstand gegen die Mächte» dazu führen kann, seinen wahren Gehalt zu verlieren, falls er nur Widerstand ist, wenn er nur Ablehnung oder negative Aktion ist. Widerstand wird umso bedeutender, je mehr er nicht nur negativ, sondern auch positiv ist, je mehr er nicht nur Ablehnung, sondern auch Handlungsbereitschaft ist. Menschen, die von Armut betroffen sind, wollen nicht nur das anfechten, was ihnen von anderen aufgezwungen wird, sondern sie wollen ihre eigenen Lösungen einbringen. Ebenso wird der Widerstand umso effektiver sein, je mehr diese Vorschläge eine kollektive Dimension haben. Entscheidend ist, dass man nicht mehr nur für sich selbst Widerstand leistet, sondern für und mit anderen zusammen Widerstand leisten kann.

Man kann von einem Teufelskreis des Widerstands sprechen. Auf der einen Seite könnte „Nicht-Widerstand“ den Eindruck erwecken, dass man die Armut untätig hinnimmt und sich nicht um Lösungen bemüht. Das kann wiederum zu Vorwürfen seitens der Sozialarbeiter und der Gerichte führen… sogar in behördlichen Verfahren. Andererseits bedeutet Widerstand aber auch, dass man noch unmittelbarer Vorwürfen und Sanktionen ausgesetzt sein kann. Auch aus diesem Grund ist es wichtig, den individuellen Widerstand in einen kollektiven Widerstand umzuwandeln. Denn solange der Widerstand individuell bleibt, besteht immer die Gefahr, dass er sich gegen die Person auswirkt, die sich wehrt, und letztlich ihren Widerstand bricht.

Eine Aktivistin der Vierten Welt drückt es zusammenfassend so aus: „Der politische Kampf beginnt mit diesem Übergang vom Ich zum Wir. Dann fühlen wir uns stärker und in diesem Moment haben wir Macht – die Macht zu vertrauen, dass die Dinge besser werden können. Denn die Hoffnung fällt nicht vom Himmel, sie kommt nicht von aussen, sie kommt nicht auf einmal, sie muss von uns allen gemeinsam erarbeitet werden.“

  1. Dieses Buch ist das Ergebnis einer Forschungsarbeit mit dem Titel „Gemeinsam mit Joseph Wresinski das soziale Sein denken“, die Philosophen, ständige VolontärInnen, Verbündete von ATD Vierte Welt und von Armut betroffene Menschen von 2019 bis 2022 im Rahmen von Wissenswerkstätten gemeinsam durchgeführt haben. Die beiden anderen Themen, die in diesem Forschungsbericht behandelt werden, sind die Ungerechtigkeit im Zusammenhang mit Wissen (die September- und Dezember-Ausgaben 2023 von Informationen ATD Vierte Welt enthalten je einen Artikel – siehe www.atd.ch), und das Recht (das in der kommenden September-Ausgabe 2024 behandelt wird). Das Buch von François Jomini, David Jousset, Fred Poch und Bruno Tardieu wurde im November 2023 im Verlag Le Bord de L’eau veröffentlicht und ist über unseren Online-Shop erhältlich. Weitere Artikel im Zusammenhang mit dieser Forschung sind auf www.atd-quartmonde.fr und www.atd-quartmonde.org publiziert.

Text bearbeitet von Perry Proellochs, Redaktor, und übersetzt von Susanne Privitera