Die internationale Bewegung

Die internationale Bewegung

1956

Joseph Wresinski, ein katholischer Priester Frankreichs, betritt das Notlager von Noisy-le-Grand bei Paris, das den Namen „Château-de-France“ (Schloss Frankreichs) trägt. 252 Familien leben dort in äusserster Unsicherheit und Ausgrenzung. „Die Familien dort erinnerten mich an die Armut meiner Mutter. Die Kinder dort hätten meine Geschwister sein können oder mich selber vor vierzig Jahren.“

Zutiefst schockiert von der dortigen Situation und der Verbindung zu seiner eigenen Geschichte nimmt er sich vor, „diese Familien die Stufen zum Elysée, zum Vatikan und zur UNO hinaufzuführen“.

1957

Joseph Wresinski gründet mit den Familien des Obdachlosenlagers den Verein „Aide à Toute Détresse“ (Hilfe in der Not), der später zur internationalen Bewegung ATD Vierte Welt wird. Er ruft Freunde und Freundinnen in der Gesellschaft auf, sich für den anfangs bedrohten Verein stark zu machen. So schliessen sich Frau Geneviève Anthonioz de Gaulle und weitere Persönlichkeiten an. Sie sind die ersten sogenannten „Verbündeten“.

Gleichzeitig setzen sich an seiner Seite Frauen und Männer verschiedener Herkunft und Überzeugung langfristig mit den Familien des Lagers ein. Sie sind die ersten „Ständigen Volontärinnen und Volontäre“. Zusammen entwickeln sie das ständige Volontariat als langfristigen Vollzeiteinsatz an der Seite armer und ausgeschlossener Familien. 

1964

Die ersten ständigen Volontariatsmitglieder werden in die USA geschickt, um in New York in der Lower East Side von Manhattan zu arbeiten.

1965

Gründung des schweizerischen Vereins Aide à Toute Détresse (später „Agir Tous pour la Dignité“), zu deutsch „Hilfe in der Not“ (später: „Gemeinsam für die Würde aller“) und  Eröffnung eines Sekretariats in Bern.

Die ersten schweizerischen Volontariatsmitglieder kehren von ihrem Einsatz im Notlager von Noisy-le-Grand in die Schweiz zurück und bauen hier die Bewegung ATD Vierte Welt auf. 

1979

ATD Vierte Welt beginnt auf der Insel La Réunion, in Guatemala und in Thailand zu arbeiten.

1981

Eine erste Niederlassung von Volontariatsmitgliedern in Afrika findet in Burkina Faso und ein Jahr später auch in Senegal statt.

Das „Forum Afrika über grosse Armut auf der Welt“ hält sein erstes Seminar und gibt den Teilnehmenden Gelegenheit zu Austausch und gegenseitiger Unterstützung.

1982

Zum 25-jährigen Bestehen der Bewegung ATD Vierte Welt findet in Brüssel eine grosse öffentliche Versammlung zum Thema „Alle Menschenrechte für alle“ statt. Eine Petition an die UNO ersucht um Anerkennung des Elends als Verletzung der Menschenrechte. Dies markiert einen wichtigen Schritt des öffentlichen Einsatzes von ATD Vierte Welt, damit die Armutsbekämpfung von der Gesamtheit der Menschenrechte her geführt wird. 

1984

Herausgabe des Buches Schweizer ohne Namen. Es zeigt eine unbekannte Schweiz, in der es Armut gibt, welche die Betroffenen in einem der reichsten Länder ohne Existenzrecht zurücklässt.

1987

Der Wirtschafts- und Sozialrat Frankreichs nimmt den von Joseph Wresinski eingereichten Bericht „Grande pauvreté et précarité économique et sociale“ an. Dieser Bericht zu grosser Armut und wirtschaftlicher und sozialer Prekarität unterstreicht, dass umfassende Armut die Menschenrechte verletzt, dass es eine vielseitige, kohärente und vorausschauende Aktion zur Überwindung der Armut braucht und es notwendig ist, die Menschen in grosser Armut als Partner zu betrachten.

17. Oktober 1987

100’000 Menschen versammeln sich auf dem Trocaderoplatz, wo im Jahr 1948 die Erklärung der Menschenrechte unterzeichnet worden ist. Sie weihen dort einen Gedenkstein zu Ehren der Opfer von Hunger, Gewalt und Unwissenheit ein, denn: „Wo immer Menschen dazu verurteilt sind, im Elend zu leben, werden die Menschenrechte verletzt. Sich mit vereinten Kräften für ihre Achtung einzusetzen, ist heilige Pflicht.“

1988

Tod von Joseph Wresinski, Gründer von ATD Vierte Welt.

1989

300 Delegierte der Familien in grosser Armut haben im Vatikan eine Audienz bei Papst Johannes Paul II.

1992

Der 17. Oktober wird von der Generalversammlung der Vereinten Nationen offiziell als Welttag zur Überwindung der Armut anerkannt. Seither finden jedes Jahr vielerorts  Gedenkanlässe statt.

1994

Der zweite Weltkongress der Familien der Vierten Welt versammelt in New York 300 Delegierte aus 80 Ländern und ein Menschenrechtsseminar führt Armutsbetroffene und ExpertInnen der Vereinten Nationen zusammen. 

17. Oktober 1996

Ein Gedenkstein zu Ehren der Opfer grosser Armut wird in New York im Garten der Vereinten Nationen im Beisein von UNO-Generalsekretär Boutros Boutros-Ghali eingeweiht.

1998

Ein Rahmengesetz zur Bekämpfung von Ausgrenzung wird in Frankreich angenommen. Menschen in Armut sind über die Volksuniversitäten in seine Ausarbeitung einbezogen worden. Geneviève de Gaulle Anthonioz, Präsidentin von ATD Vierte Welt in Frankreich, hat sich für dieses Gesetzesprojekt eingesetzt, seitdem sie 1995 den Bericht zur Auswertung der politischen Massnahmen zur Bekämpfung grosser Armut dem Rat für Wirtschaft, Soziales und Umwelt unterbreitet hat.    

1999

Zum zehnjährigen Jubiläum des 1989 angenommenen Übereinkommens der Vereinten Nationen bezüglich der Rechte des Kindes organisiert der Kinderzweig von ATD Vierte Welt, die sogenannten Tapori, im Palais Wilson in Genf ein Treffen von 80 Kindern aus aller Welt mit der Hochkommissarin für Menschenrechte, Mary Robinson.

2002

Ein nationaler Plan zur Bekämpfung der Armut wird in Quebec angenommen. ATD Vierte Welt und andere Organisationen setzen sich für die Umsetzung des Gesetzes gegen Armut und soziale Ausgrenzung ein, welches im Dezember 2002 einstimmig angenommen wird.

2007

Einweihung des internationalen Joseph-Wresinski-Zentrums „Mémoire et recherche“ (für Gedenken und Forschung) in Baillet en France. Es hat den Auftrag, die Geschichte der Menschen in grosser Armut zu erfassen, die Gründe für das Elend zu verstehen und das Engagement jener zu vertiefen, die sich dagegen wehren.

Einweihung des Umbaus des schweizerischen Zentrums von ATD Vierte Welt in Treyvaux (Freiburg), einem Ort der Identität für die Ärmsten und der Wissensbildung zum Wohle aller.

2008

Dank des Einsatzes der Mitglieder von ATD Vierte Welt in Guatemala nimmt die Landesregierung dort ein Gesetz an, das die Volksschulbildung ab 2009 für alle kostenlos macht. Vorher mussten die Familien selber für Anmeldegebühren, Uniformen und Schulbücher aufkommen. 

2009 – 2012

Vertiefung des Zusammenhangs von „Elend, Gewalt und Frieden“ mit weltweit über tausend Beteiligten, fünf regionalen Seminaren und einem internationalen Kolloquium im Januar 2012 in Pierrelaye (Frankreich) und an der Unesco in Paris. Veröffentlichung des Schlussberichts „Elend bedeutet Gewalt, das Schweigen brechen, den Frieden suchen“.

27. September 2012

Der UNO-Menschenrechtsrat verabschiedet die „Leitlinien Grosse Armut und Menschenrechte“. ATD Vierte Welt hat zu dieser Schrift beigetragen. Die Mitgliedstaaten des Menschenrechtsrates bekräftigen, dass die Überweindung der Armut nicht nur eine moralische, sondern gemäss internationaler Übereinkunft zum Schutz der Menschenrechte auch eine legale Pflicht darstellt.

2011 – 2013

ATD Vierte Welt macht eine Forschungsarbeit mit 2000 Beteiligten aus 20 Ländern, die teilweise in grosser Armut leben. Sie betrachten die Umsetzung der Millenniums-Entwicklungsziele (MDG), die im Jahr 2000 von den Vereinten Nationen festgelegt worden sind, und schlagen neue Ziele für nach 2015 vor. Die Erkenntnisse dieser Forschung sind den Vereinten Nationen im Juni 2013 präsentiert und im Bericht „Für eine nachhaltige Entwicklung, die niemanden zurücklässt: die Herausforderungen für die Zeit nach 2015“ veröffentlicht worden. 

2014 – 2015

ATD Vierte Welt verfolgt ihren Einsatz auf internationaler Ebene für „eine nachhaltige Entwicklung, die niemanden zurücklässt“ und für die Umsetzung der „Leitlinien umfassende Armut und Menschenrechte“.

2019 – 2023

Prioritäten von ATD Vierte Welt

  1. Miteinbezug der Intelligenz aller – dem Wissen, das notwendig ist, um den Herausforderungen der Welt zu begegnen.
  2. Eine Bildung fördern, die das Potenzial eines Jeden berücksichtigt.
  3. Eine Gesellschaft mitgestalten, welche die Menschen und die Umwelt achtet und den Frieden fördert.
  4. Die Bewegung ATD Vierte Welt im Hinblick auf einen dauerhaften Einsatz entwickeln.

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