Weihnachtsbotschaft 2024 – Appell an Ihrer Solidarität

Zeichnung von Jeanpierre Beyeler, „Schweizer ohne Namen“

Es ist der 5. September 2024. ATD Vierte Welt empfängt im Nationalen Zentrum in Treyvaux das „Erzählbistro“ mit rund dreissig Personen, die fürsorgerische Zwangsmassnahmen erlebt haben.

Der rote Samtvorhang im grossen Saal dient heute als Hintergrund für die Inszenierung der Geschichte einer Schweizer Familie, die über drei Generationen hinweg Fremdplatzierungen erlebt hat. Das Bühnenbild ist einfach: zwei Stühle und wenige Requisiten, um ihren Worten und Erfahrungen Raum zu lassen.

Kaum beginnt die Erzählung, wird das Publikum von zahlreichen Emotionen erfasst: Hoffnung und Ungerechtigkeit, die Liebe der Eltern zu ihren Kindern und der Kinder zu ihren Eltern, Unverständnis und ein alltäglicher Kampf, Wut, Angst, Momente der Befreiung. Vor allem aber eine innere Kraft, die die Hoffnung nährt, endlich als Familie in Würde und Freiheit leben zu können.

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„Ich war im Heim, meineTochter Lea war im Heim, meine Enkelinnen sind im Heim.Warum passiert das immer wieder? Weil wir keine Arbeit haben? Weil wir kein Geld haben? Weil wir Sozialhilfe beziehen?“

So lautet der Aufschrei von Frederic, Grossvater und Vater der Geschichte. Joana, Langzeitvolontärin der Bewegung ATD Vierte Welt, besuchte seine Familie über zwei Jahre hinweg jede Woche. Was sie gemeinsam aufgeschrieben haben, ist im Laufe der Zeit eine Familiengeschichte über drei Generationen geworden.

Joana und Lea sind fast gleich alt. Lea hat schon so viel erlebt. Ihre ersten beiden Töchter, die ihr bei der Geburt entrissen wurden, sind jetzt sechzehn und vierzehn Jahre alt. Ihre gesamte Kindheit verbrachten sie in Heimen.

Mit ihrem dritten Kind schwanger, trägt Lea auch die Hoffnung auf ein neues Leben in sich: Sie möchte ihre drei Kinder bei sich haben.

Doch der Vertreter der Behörden holt 15 Jahre alte Dokumente aus seiner Akte hervor, die das Bild einer unfähigen Mutter zeichnen. Er schliesst seinen Bericht an den Richter mit den Worten ab: „Es könnte auch sein, dass Frau S., mit ihrem Kleinkind und ihren Töchtern nicht zurechtkommt, völlig überfordert ist und das Baby in grosse Gefahr bringt.“

Lea blickt der Anhörung mit schrecklicher Angst entgegen, aber sie ist fest entschlossen, zu kämpfen.

Die ganze Nacht bereitet sie sich vor, um zu zeigen, wie sehr sie sich seit der Geburt ihrer Töchter verändert hat. Was sie alles unternommen hat, um ihr Baby zu Hause willkommen zu heissen, bis hin zum Bezug einer grösseren Wohnung, nach der sie schon lange gesucht hatte.

„Ich bin mir meiner Fähigkeiten bewusst und kenne auch meine Schwächen. Ich kann um Hilfe bitten, wenn es nötig ist. Ich bin reifer geworden. Ich bin nicht mehr dieselbe Frau. Ich bin nicht mehr dieselbe Mutter.“

Der Bericht des Jugendamtes ist belastend. Lea weiss aus Erfahrung, dass ihr Wort gegen das der Fachleute nicht viel Gewicht haben wird. Zu ihrer Überraschung lässt der Richter sie als Erste sprechen.

Von dieser Anerkennung beflügelt, findet sie die richtigen Worte: 

Jeder Tag, an dem ich von meinen Töchtern getrennt war, war ein verpasster Tag, um unsere Beziehung zu stärken.“

Der Richter hört sie an, anerkennt „die Bedeutung der Mutter-Kind-Bindung“, die „von Geburt an bestehen muss“, und überlässt ihr das Sorgerecht für ihr ungeborenes Kind, mit der Auflage, dass sie von einer Mütter- und Väterberaterin zu Hause begleitet wird.

Das ist ihr Sieg – auch wenn noch so viele Kämpfe zu führen sind, bis die Familie endlich wieder vereintist.

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Am Ende der ersten Aufführung äussert sich Frederic: „Ich bin stolz darauf, ein Stück meines Lebensweges aufgeschrieben zu haben und ihn so mit unseren Kindern und Enkeln teilen zu können, auch wenn die Geschichte, die wir erlebt haben, nicht leicht zu erzählen ist.“

Zu Tränen gerührt, fügt er hinzu: „Meine Tochter ist dabei, den Kreislauf zu durchbrechen!“

Es folgen weitere Inszenierungen und die Lebensgeschichte beginnt bekannt zu werden. Nach einer Aufführung bemerkt eine Freiwillige einer Wohltätigkeitsorganisation: „Wir sind uns eigentlich nicht bewusst, was die Menschen durchmachen, denen wir helfen.“ Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen erwägen, die Erzählung für Schulungen zu verwenden.

Es ist ein grossartiges und mutiges Engagement von Lea und ihren Eltern, ihre Geschichte zu erzählen, damit sie dazu beiträgt, das Leben anderer Familien zu verändern.

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Liebe Freundinnen und Freunde

Die Festtage stehen bevor und wir hoffen auf Ihre Unterstützung der LangzeitvolontärInnen, die sich an der Seite jener Familien engagieren, deren Würde und Rechte am stärksten verletzt werden.

Gemeinsam werden wir uns dafür einsetzen, dass das Recht auf Familie für alle respektiert wird.

Gemeinsam werden wir den ewigen Kreislauf durchbrechen, der noch immer so viele Familien daran hindert, das Band der Liebe zwischen Eltern und Kind in Würde zu leben.

Wir danken Ihnen von ganzem Herzen für Ihre Grosszügigkeit und Verbundenheit mit der Bewegung ATD Vierte Welt und wünschen Ihnen schöne Festtage.

Corinne Martin und Claude Hodel, Co-Präsidium

Perry Proellochs, Nationale Delegation