Von Opfern zu AkteurInnen für Forschung und Veränderung
Beat Jans, Bundesrat und Vorsteher des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, im Gespräch mit (von links nach rechts) Annelise Oeschger, Alain Meylan, Claude Hodel und Ursula Schneider Schüttel, Mitglieder von ATD Vierte Welt. © Marco Finsterwald
Am 24. Mai 2024 nahm eine Delegation von rund 20 Mitgliedern der Bewegung ATD Vierte Welt auf dem Gurten beiBern an der Abschlusskonferenz des nationalen Forschungsprogramms (NFP 76) „Fürsorge und Zwang – Geschichte, Gegenwart und Zukunft“ teil. Die Delegation bestand grösstenteils aus Personen, die von Armut und fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffen sind.
Eine besondere Bedeutung
Unsere Teilnahme an dieser Konferenz hat eine ganz besondere Bedeutung: Sie ist eine starke Anerkennung auf nationaler Ebene für die Bedeutung und Qualität der Arbeit, die im Rahmen des Forschungsprojekts „Armut – Identität – Gesellschaft“ von Personen geleistet wurde, die über Wissen verfügen, das auf ihrer Erfahrung mit Armut und Zwangsmassnahmen beruht. Ihr Engagement in jeder Phase des Projekts wird dadurch anerkannt: von der Definition der Forschungsfrage über die Materialsammlung, die Analyse und die Verbreitung der Ergebnisse bis hin zum Verfassen des Schlussberichts – und dass sie somit vollwertige AkteurInnen dieser Forschung waren.
Die Wissenschaftler, die an der Forschung „Armut – Identität – Gesellschaft“ teilgenommen haben, sowie ihre Kollegen und zahlreiche Fachleute, die am 9. Mai 2023 an unserem Kolloquium „Endlosschlaufe Armut: welche Verantwortung fürunsere Gesellschaft?“ anwesend waren, wurden vom Know-how der Bewegung beeindruckt, von ihrem Willen, die Gedanken derjenigen, die Armut erleben, zu berücksichtigen, und zwar unermüdlich und in einer Dynamik derMethode des Wissen-Kreuzens. Dieser Wille ist sowohl politisch als auch wissenschaftlich motiviert, denn das Ziel besteht darin, die Gesellschaft zu mehr sozialer Gerechtigkeit zu bewegen und die Wissenschaft dazu zu bringen, das Wissen aus der Erfahrung von Armut anzuerkennen und zu integrieren.
Der Schlussbericht „Beziehungen zwischen Institutionen, Gesellschaft und Menschen in Armut in der Schweiz: Eine Gewalterfahrung, die weitergeht“ stellt Fragen – und begeistert die Forschenden. An diesem 24. Mai in Bern stand er neben den Dokumenten des NFP 76, und Beat Jans hob in seiner Abschlussrede einen wichtigen Aspekt hervor:
„Wir bleiben am Thema dran. Auch als Bundesrat – und ganz besonders als Justizminister – werde ich mich dafür einsetzen, dass wir die Erinnerung an dieses grosse Leid und an dieses Unrecht wach und lebendig halten. Und ich werde mich dafür einsetzten, dass wir daraus die notwendigen Lehren ziehen. Wir müssen aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Wir müssen dafür sorgen, dass so etwas nie wieder passiert! Wir sind es Trudi, Erika, Willy und allen anderen schuldig.“1
Oder, um Herrn Jans zu paraphrasieren, wir schulden es all denjenigen, die im Zentrum dieser Forschung stehen.
Der Wille ist da: Solche Forschungsergebnisse, die für die Gegenwart und Zukunft unserer Gesellschaft und unserer Institutionen lehrreich sind, dürfen auf keinen Fall in Schubladen verschwinden! Um in diesem Sinne zu arbeiten, wird das Bundesamt für Justiz im Herbst 2024 für vier Jahre ein Komitee bilden, das sich aus VertreterInnen verschiedener Bereiche zusammensetzt: VertreterInnen von Menschen mit Armutserfahrungen, WissenschaftlerInnen, Fachleute und ihre Institutionen sowie Behörden. Die Einladung an die Bewegung ATD Vierte Welt, ihren Beitrag zu leisten, ist von grosser Tragweite und Anerkennung: Sie soll dafür sorgen, dass die Initiativen und Veränderungen, die sich aus dieser Forschung ergeben sollen, tatsächlich auf die Menschen ausgerichtet sind, die am weitesten von der Anwendung ihrer Rechte und der Anerkennung ihrer Würde entfernt sind.
Anne-Claire Brand, ständige Volontärin von ATD Vierte Welt und Mitglied der Gruppe, die die Ergebnisse des Projekts „Armut – Identität – Gesellschaft“ valorisiert.
1. Die ganze Rede von Bundesrat Beat Jans finden Sie unter www.ejpd.admin.ch – unter „Reden“.