Unsere politischen Ziele 2025 – 2028

Im nationalen Forschungsprojekt „Armut – Identität – Gesellschaft“ erarbeiteten Menschen mit Armutserfahrung gemeinsam mit Fachleuten aus Praxis und Forschung ein Wissen, das zu grundlegenden Veränderungen beitragen soll, damit sich institutionelle oder gesellschaftliche Ungerechtigkeiten und in der Geschichte erlebte Gewalt nie mehr wiederholen. Sie versuchen, Geschichte und Gegenwart besser zu verstehen, um so zu einer Entwicklung der Praktiken von heute und in Zukunft beizutragen, für eine Gesellschaft, die niemanden zurücklässt.

Der Schlussbericht des Forschungsprojekts „Armut – Identität – Gesellschaft“ 2019 – 2023 trägt den Titel: Beziehungen zwischen Institutionen, der Gesellschaft und Menschen in Armut in der Schweiz: Eine Gewalterfahrung, die weitergehtDie daraus entstandenen Grundpfeiler bilden die Grundlage für die Handlungsfelder auf den Ebenen Politik und Gesetzgebung, Gesellschaft und Öffentlichkeit, Institutionen sowie Wissenschaft und Bildung. 

Die politischen Ziele der ATD Vierte Welt Schweiz sind auf der Basis des Forschungsprojekts „Armut – Identität – Gesellschaft“ aufgebaut.

Grundpfeiler

Armut erkennen, verstehen und anerkennen

Handlungsmacht erlangen und stärken

Den Wandel gemeinsam gestalten

1. Armut erkennen, verstehen und anerkennen

Gemeinsam mit Menschen die Armut erleben, soll befreiendes Wissen zum Nutzen aller erarbeiten werden.

Die Personen und Familien in den schwierigsten Armutssituationen haben ein Insider-Wissen über die Auswirkungen der Gesetze, die Handlungsweisen der Institutionen und das Funktionieren der Gesellschaft, ohne das die Verwirklichung einer für alle gerechten und lebenswerten Schweiz nicht möglich ist.

Seit mehr als 60 Jahren schafft ATD Vierte Welt Räume, in denen Menschen auf der Grundlage ihrer eigenen Erfahrungen und Überzeugungen einbringen können, was sie wissen und denken. In den Volksuniversitäten der Vierten Welt entdecken von Armut betroffene Personen, dass sie über ein Wissen verfügen, das bei anderen ankommt und etwas bewirken kann. 1996 initiierte die Bewegung den Ansatz „Wissen und Praktiken verbinden“. Dabei werden drei Wissensquellen mobilisiert: 

1. theoretisches, akademisches Wissen, 2. Professionelles Handlungswissen, 3. Wissen aus der Lebenserfahrung der Menschen in Armut. 2019 bis 2023 hat die Bewegung ATD Vierte Welt das Forschungsprojekt „Armut – Identität – Gesellschaft“ erarbeitet.

Mit der Methode des „Wissen-Kreuzens“ (fr. „Croisement des savoirs“) haben Menschen mit Armutserfahrung (von denen die Hälfte in erster oder zweiter Generation einen Bezug zu den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen vor 1981 hat), aus der Berufspraxis und aus der Wissenschaft gemeinsam erarbeitet, was es heute in der Schweiz bedeutet, in Armut und Abhängigkeit von Unterstützung zu leben, und wie sich die Verbindung zwischen Fürsorge und Zwang bis heute weiterentwickelt hat.

Entstanden ist das Forschungsprojekt aus der Überzeugung heraus, dass der institutionellen Gewalt und Schutzlosigkeit ein Ende gesetzt werden muss. Dies umso mehr als der Bund diese Gewalt und Schutzlosigkeit 2013 im Zusammenhang mit den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen vor 1981 anerkannt hat. Mit dem vom Bundesamt für Justiz unterstützten Projekt wurde ein kollektives Wissen erarbeitet, das die Beziehungen zwischen Gesellschaft, Institutionen und Menschen in Armut beleuchtet und Ansätze aufzeigt, wie notwendige Veränderungen möglich sind.

Mit den Volksuniversitäten entdeckt man, dass man das Recht hat sich zu verteidigen. Man lernt, dass man Rechte hat. Man trifft sich mit vergleichbaren Lebenssituationen. Man fühlt sich verstanden.“

(Zitat aus dem Schlussbericht des Forschungsprojekt „Armut – Identität – Gesellschaft“ – Seite 10)

2. Handlungsmacht erlangen und stärken

2.1 Armut in all ihren Dimensionen beenden

Armut ist ein multidimensionales Phänomen, das durch monetäre Indikatoren allein nicht erfasst werden kann. Sicher umfasst sie Entbehrungen wie materielle und soziale Benachteiligung, unzureichendes und unsicheres Einkommen, Mangel an menschenwürdiger Arbeit. Armut bedeutet aber auch institutionelle und soziale Misshandlung sowie Nichtanerkennung des eigenen Beitrags. Auf der Erfahrungsebene heisst Armut fehlende Handlungsmacht, physisches und psychisches Leiden, aber auch Kämpfen und Widerstehen.

Um auszuwerten, ob und inwiefern wir in unserem Land und weltweit dem Ziel der Beseitigung von Armut, ausgehend von ihren extremen Formen, näherkommen, müssen all ihre Dimensionen berücksichtigt werden. Es müssen geeignete Indikatoren entwickelt werden, um Veränderungen in all diesen Bereichen zu messen.

Anhaltende Armut bedeutet auch soziale Ausschliessung. Sie verhindert die Ausübung von Grundrechten und -freiheiten. Daher erfordert die Beseitigung der Armut eine Gesamtpolitik auf der Basis der Menschenrechte und der unveräusserlichen Würde eines jeden Menschen.

2.2 Vertretung und Partizipation der Ärmsten sicherstellen

Bis in die Achtzigerjahre wurde die Armut in der Schweiz politisch nicht thematisiert. Im öffentlichen Bewusstsein war sie mit der wirtschaftlichen Entwicklung verschwunden, oder betraf klar definierte Gruppen wie Bergbauern und Migranten, bei denen durch gezielte Massnahmen Abhilfe geschaffen werden konnte. Familien, die von Generation zu Generation in Armut lebten, kamen nicht zur Sprache.

Heute wird das schwere Unrecht, das armutsbetroffenen Familien in der jüngsten Geschichte durch fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen angetan wurde, anerkannt. Die Entschuldigung der Schweizer Regierung im April 2013 war ein historischer Moment. Die Arbeit der Unabhängigen Expertenkommission (UEK) Administrative Versorgungen hat gezeigt, dass Personen und Familien aufgrund ihrer Armut diskriminiert und misshandelt wurden.

Die Personen, die heute in den schwierigsten Armutssituationen leben, tragen die Konsequenzen von Menschenrechtsverletzungen und Diskriminierungen über Generationen hinweg. Das gibt ihnen ein unersetzliches Wissen nicht nur über ihre gegenwärtige Situation, sondern auch über zu erwartende Auswirkungen unseres heutigen Umgangs mit Armut auf künftige Generationen.

Darum sind die Stimme und das Wissen der Menschen in den extremen Armutssituationen unerlässlich, um das Gemeinwohl zu definieren und eine nachhaltige Entwicklung für alle zu gewährleisten. Im politischen Prozess müssen sie als eigenständige Stimme gehört werden.

Ihre Vertretung durch Organisationen, bei denen sie sich aus freier Entscheidung engagieren und äussern, muss in allen Phasen und auf allen Ebenen gewährleistet sein. 

Dabei geht es nicht um eine spezifische Interessenvertretung, sondern um die Beteiligung der Ärmsten an der Vertretung aller: als Eltern mit allen anderen Eltern, als Arbeitnehmende oder Erwerbslose mit allen anderen Arbeitnehmenden oder Erwerbslosen. Diese Beteiligung sollte für Mieter, Jugendliche etc. vorhanden und möglich sein. In diesem Sinne ist ATD Vierte Welt Mitglied verschiedener Dachverbände und Plattformen auf nationaler, kantonaler und regionaler Ebene.

2.3 Handlungsfeld Politik und Gesetzgebung 

(Auszug aus dem Forschungsbericht „Armut – Identität – Gesellschaft“ – Seiten 39-42)

Die Anerkennung und Wertschätzung von Kompetenzen und der verschiedenen Arten, Beiträge zu leisten, die Stärkung des Selbstvertrauens und ein Handeln „mit und nicht für“ die Betroffenen sind Mittel, um die individuelle Handlungsmacht zu fördern. Es ist jedoch auch notwendig, die kollektive Handlungsmacht zu stärken, die Isolation zu überwinden, welche Partizipation unmöglich macht, und Räume zu schaffen, in denen sich armutsbetroffene Menschen unter Peers begegnen können.

Notwendige Entwicklungen: 

  • Regelmässige Berichterstattung über Armut.
  • Die Diskriminierung auf Grund von Armut beenden.
  • Eine ständige Vertretung der Interessen von Menschen mit Armutserfahrung einrichten.
  • Rechstvorschriften menschenrechtskonform ausgestalten. 
  • Die Sozialverträglichkeitsprüfung von Rechtsvorschriften erweitern und gemeinsam mit Menschen mit Armutserfahrung durchführen.
  • Einen rechtlichen Rahmen schaffen, der finanziell ein würdiges Leben ermöglicht.
  • Einen rechtlichen Rahmen schaffen, der eine bessere Einbindung von Angehörigen oder unterstützenden Personen in die Entscheidungsprozesse ermöglicht.
  • Rechtsvorschriften menschenrechtskonform anwenden.
  • Den Zugang zum Recht ermöglichen und stärken.
  • Unabhängige Ombudsstellen schaffen.

Wir müssen nicht nur kämpfen, damit es uns besser geht. Wir müssen stärker sein als die Leute, deren Leben sozusagen normal verläuft. Wir müssen stärker sein, weil wir sonst untergehen, weil wir sonst nicht überleben können.“

(Zitat aus dem Schlussbericht des Forschungsprojekt „Armut – Identität – Gesellschaft“ – Seite 27)

3. Den Wandel gemeinsam gestalten – Vertretungen und Partnerschaften

3.1 Extreme Armut und Menschenrechte

ATD Vierte Welt begrüsst die Einrichtung einer unabhängigen Menschenrechtsinstitution in der Schweiz und erinnert daran, dass die Ärmsten darin vertreten sein müssen. Dank ihrer Beteiligung an der Plattform der Nichtregierungsorganisationen zu den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten, verfolgte ATD Vierte Welt den gesamten Prozess im Zusammenhang mit dem Bericht, den die Schweiz dem Expertenausschuss vorgelegt hat, der die Umsetzung des UN-Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR) durch seine Vertragsstaaten überwacht. Dabei betont ATD Vierte Welt, dass die effektive Wahrnehmung aller Menschenrechte eine Analyse der Umsetzung eines jeden vom Pakt garantierten Rechts in Partnerschaft mit den Menschen in Armut und ihrer Organisationen erfordert, sei es das Recht auf Gesundheit, Wohnung, Umweltschutz, Arbeit, auf Zugang zu sozialen Diensten, zur Kultur etc.

3.2 Arbeit auf Bundesebene 

Die ATD Vierte Welt antwortet auf Vernehmlassungen, setzt sich für die Verwirklichung der Sozialziele nach Artikel 41 Bundesverfassung (BV) ein und sucht den direkten Austausch mit Bundesämtern und mit Parlamentarier:innen auf nationaler Ebene.

Das Bundesamt für Justiz (BJ) ist verantwortlich für die Valorisierung der Ergebnisse der wissenschaftlichen Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen  vor 1981 (Art. 15 AFZFG). 

Im Rahmen des Programms „erinnern für morgen“ (2024-2028) fördert das BJ Projekte verschiedener Akteure und setzt eigene Projekte um. ATD Vierte Welt ist einerseits im 12köpfigen nationalen Beirat vertreten, der diese Nutzung und Verbreitung der Ergebnisse begleitet, und führt andererseits eigene vom BJ geförderte Projekte durch. Dabei steht die Valorisierung des AIG-Berichts im Vordergrund.

Die beim Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) angegliederte Nationale Plattform zur Prävention und Bekämpfung von Armut dient dem Austausch unter Fachpersonen und stellt fundierte Grundlagen bereit zu ausgewählten Schwerpunktthemen.

Der Bundesrat schrieb in seinem Bericht zur Armutsprävention 2022 „Die Mitwirkung von Betroffenen bei der Politikformulierung und -umsetzung ist ein Thema, mit dem sich mehrere Bundesstellen beschäftigen. Projekte, in denen es spezifisch um die Mitwirkung armutsbetroffener und -gefährdeter Menschen geht, konzentrieren sich auf Bundesebene jedoch weitgehend auf die nationale Plattform gegen Armut.

Der Bundesrat hat im Dezember 2024 ein Konzept für eine nationale Struktur zur Prävention und Bekämpfung der Armut gutgeheissen. Die Struktur umfasst das Armutsmonitoring, eine nationale Armutsstrategie, die Plattform gegen Armut und Partizipationsmöglichkeiten für Betroffene. Ein unabhängiger Rat für Armutsfragen wird als Pilot getestet; er soll Menschen mit Armutserfahrungen eine Stimme geben.

Die Bewegung ATD Vierte Welt ist Mitglied in der Begleitgruppe der Nationalen Plattform, in diversen Arbeitsgruppen aktiv und arbeitet in den Vorbereitungen der Nationalen Konferenzen gegen Armut mit. 

3.3 Strategie Nachhaltige Entwicklung 2030

Die Agenda 2030 der Vereinten Nationen mit ihren 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung ist ein globaler Plan zur Förderung nachhaltigen Friedens und Wohlstands und zum Schutz unseres Planeten. Im ersten Ziel der Agenda 2030 heisst es: Armut in all ihrer Form und überall beenden.

Um die Problematik der Armut umfassend anzugehen, beinhaltet Ziel 1 neben der Überwindung extremer Armut auch ein Unterziel zur Überwindung relativer Armut, welche sich an nationalen Definitionen orientiert. Arme Menschen sind von wirtschaftlichen und politischen Krisen, Verlust von Biodiversität und Ökosystemleistungen, Naturkatastrophen und Gewalt besonders betroffen. Damit Menschen, die der Armut entfliehen konnten, nicht in die Armut zurückfallen, braucht es auch Massnahmen zur Stärkung ihrer Widerstandsfähigkeit und den Aufbau von sozialen Sicherungssystemen.

Diese Leitlinie ist auch eine zentrale Ausrichtung der internationalen Bewegung ATD Vierte Welt für die kommenden Jahre.

3.4 Zusammenarbeit mit anderen Organisationen

ATD Vierte Welt arbeitet in verschiedenen Settings mit engagierten Personen und Organisationen im Bereich der Armutsbekämpfung zusammen und schliesst sich Netzwerken an, um durch gemeinsames Agieren auf regionaler, kantonaler und nationaler Ebene mehr bewirken zu können (zB. Kurse auf Bachelor- oder Masterebene in Fachhochschulen für Soziale Arbeit, Workshops bei Veranstaltungen von Berufsverbänden oder Hilfsorganisationen sowie der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe/SKOS, der Städteinitiative oder der Fachstelle Interinstitutionelle Zusammenarbeit/IIZ).

Der Welttag zur Überwindung extremer Armut und sozialer Ausgrenzung am 17. Oktober ist ein besonderer Moment, um Bürger und Bürgerinnen aus allen Gesellschaftsschichten sowie lokale, nationale und internationale Organisationen zu mobilisieren.

Unser Beitrag, dass man Armut nicht einfach als individuelles Problem anschaut, sondern als strukturelles Problem. Als gesellschaftliches Problem, das eng zusammenhängt mit Ungleichheit und Macht, die reproduziert werden, gesellschaftliche, von Generationen zu Generationen.“

(Zitat aus dem Schlussbericht des Forschungsprojekt „Armut – Identität – Gesellschaft“ – Seite 31)

Diese politischen Ziele wurden erarbeitet von der

Arbeitsgruppe Politik der ATD Vierte Welt Schweiz.