Stellungnahme und politische Forderungen

Stellungnahme und politische Forderungen von 26 Organisationen im Bereich der Armutsbekämpfung

26 Organisationen im Bereich der Armutsbekämpfung

Eine Allianz von 26 Betroffenenorganisationen und Organisationen aus dem Bereich der Armutsbekämpfung und -prävention stellte am 27. Mai in Bern auf mehreren Pressekonferenzen unter dem Titel  «Die Krise trifft armutsbetroffene Menschen doppelt» eine gemeinsame Position und seine Forderungen vor. Alain Meylan, ein Aktivist von ATD Vierte Welt, hielt die folgende Rede.

Ich danke Ihnen für die Einladung zu dieser Pressekonferenz. In diesem von Covid-19 geschüttelten Jahr sind wir mehrmals hier in Bern zusammengekommen, um uns mit den Folgen dieser Krise für die Menschen in Armut auseinanderzusetzen. Ich habe an diesen Sitzungen teilgenommen und nehme weiterhin daran teil.

Heute spreche ich für Menschen, die darunter leiden, dass ihre Kenntnisse und ihr Erfahrungswissen nicht genügend beachtet werden, wenn gesucht wird, was in Gesellschaft und  Politik zu ändern ist. Es ist klar, dass eine Person, die – wie vorher bezüglich des Lebensunterhalts gesagt worden ist – ihre Würde wieder findet, auch leichter wieder zu einer richtigen Ausbildung findet, einer Ausbildung, die ein erreichbares Recht für alle sein muss. 

Ich habe auch die Sozialarbeitenden gehört, die sich richtigerweise um mehr Mittel und weniger Druck sorgen, um ihren Beruf so gut wie möglich ausüben zu können. Wer wird aber, wenn von einer gefestigten Sozialarbeit gesprochen wird, garantieren, dass sich für armutsbetroffene Personen wirklich etwas verändert? Du kannst das ganze Personal und alle finanziellen Mittel einsetzen, aber wenn diese Verstärkung nicht von allen, die damit zu tun haben, gestaltet wird und vor allem von jenen, die die Armut selber erleben, was wird sich dann wirklich verändern?

Was wird helfen, das Schweigen über die Unrechtssituationen und die Gewalt zu brechen, welche die seit Generationen in Armut lebenden Menschen treffen? Im Jahr 2013 anerkannte die Regierung die Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen im 20. Jahrhundert. Da konnte man nun reden und in unsere Akten Einsicht nehmen. Vorher hörte man uns nicht an, man glaubte uns nicht. Als fremdplatziertes Kind war man vollkommen isoliert. In meiner Gegend gab es mehrere fremdplatzierte Kinder wie mich, aber ich wusste es nicht. Es wurde geschwiegen, und das noch bis vor wenigen Jahren, man sollte nicht reden, man glaubte uns nicht.

Und heute garantiert nichts, dass sich, mit mehr Zeit und weniger Akten, grundsätzlich etwas ändert. Man soll nicht weiterhin Zwang anwenden, sondern mit den Betroffenen handeln statt für sie. Wird die Verstärkung der Sozialarbeit die Basis solider machen, damit sie aus der Isolierung findet? Wird sie die Art, wie man eine in der Armut lebende Person sieht, verändern und sie als Person mit einer Geschichte und einer Erfahrung, der Geltung gebührt, wahrnehmen? Wird jemand, der über ein Studium, eine Ausbildung verfügt, von oben herabsehen und Worte benützen, die nur seinesgleichen verstehen? Werden die Menschen, die von diesen Ämtern abhängig sind und oft mehreren Personen allein und verkannt gegenüberstehen, in einer Situation der Unterlegenheit und Schwäche verbleiben?

Gegenwärtig arbeitet die Bewegung ATD Vierte Welt am sogenannten „Wissen teilen“. Zum ersten Mal sehe ich so ein Projekt, an dem alle Teile mitwirken. Da sind jene, die Armut selber erleben, und da sind Fachpersonen aus Wissenschaft und Beruf. Von Anfang bis Ende des Forschungsprojekts geht es darum, miteinander die Beziehung zwischen den Institutionen und den armutsbetroffenen Menschen zu verstehen und so zu verändern, dass wir wirklich als gleichwertige Menschen anerkannt und unterstützt werden, samt unserem Wissen und unserem Verstand.  

Ich nehme an dieser dreijährigen Forschungsarbeit teil. Sie zählt für mich. Mit einem derartigen Werkzeug baut man auf solidem Grund, denn es ist echtes Teamwork, in dem sich alle Mühe geben und anhand der Erfahrung und des Wissens eines jeden miteinander arbeiten und suchen.

Diese Forschungsarbeit gibt auch Gelegenheit, mit Studierenden der Sozialarbeit oder anderer  Wissensgebiete zu sprechen. Ich denke, das ist wichtig, denn diese Studierenden müssen um das Leben und den Mut der Menschen, die in Armut leben, wissen und spüren, dass sie darunter leiden, in ihrem täglichen Kampf weder geachtet noch unterstützt zu werden. Das muss zu ihrem Lern- und Ausbildungsweg gehören. Es geht um eine gemeinsame Bildung: sich gegenseitig und miteinander weiterbilden.

So wird sich die Zukunft ändern und wir werden spüren, dass wir nützlich sind und an einer besseren Zukunft für alle mitwirken! Das ist eine grosse Ehre! Ich spüre wirklich, dass ich lebe! Es ist wie beim Malen eines Bildes: Zuerst bist du unsicher, aber dann lebst du es und bist erfüllt davon.

Ich danke Ihnen.

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