Standortbestimmung und Zukunftsausrichtung

Anonym, Strassenbibliothek in Basel, 2021

Die 33 Gespräche, mit den gleichen Fragen an alle Beteiligten, dauerten oft bis zu zwei Stunden. Die Tonaufnahmen wurden von Vertrauenspersonen sorgfältig abgeschrieben. 600 Seiten! Ein offenes Buch. Ein tiefgreifender und weitgespannter Einblick in die Geschichte und das heutige Leben der ATD Vierte Welt Bewegung in Basel aus der Sicht seiner aktiven Mitglieder. Eine Standortbestimmung, die es nun ermöglicht, an einer soliden, verwurzelten Zukunftsausrichtung für die kommenden Jahre, zusammen mit den neuen VolontärInnen, zu arbeiten.

Aus den Gesprächen ist hervorgekommen, dass bei vielen Familien der Einsatz Armut zu überwinden, Generationen-übergreifend ist. Es springt von den Eltern auf die Kinder über, weil tiefe Erfahrungswerte weiter gegeben werden.

Eine menschliche Perlenkette

Oft dachte ich bei dieser Arbeit an Frau Zimmermann, Otti Huber, Familie Sacker, Familie Kählin, Familie Liechti, Familie Delaquis, an Nelly Schenker und so viel andere. Diese menschliche Perlenkette aus Mut und Widerstand gegen die Ungerechtigkeiten der Armut hat sich stetig erweitert durch Personen wie Jürg Meyer und Katharina Scherr, durch Personen wie Christine Lindt und Claude Hodel, die in den letzten 10 Jahren die Hauptverantwortung mit Leib und Seele getragen haben. Diese einzigartige Summe von zwischenmenschlicher Intelligenz, dem zueinander Sorge tragen und kreativen zusammen Aufstehen und Handeln, macht uns bescheiden, gibt uns neue Verantwortungen und Kraft für die Zukunft.

Ein vielfarbiges Unterseeboot

Ein Bild aus den Gesprächen hat sich mir besonders eingeprägt: „Viele Menschen haben in ihrer Geschichte viel Schweres erlebt, das sie lähmt und dazu führt, sich in der Öffentlichkeit nicht ausdrücken zu können. Hier liegt eine grosse Verantwortung der Bewegung: Sie steigt in eine Art Unterseeboot, taucht in die Tiefen zu den Leuten und zusammen steigen wir in die Sichtbarkeit.“ In mir erklingt der Refrain eines Beatles-Songs: «We are live in a yellow submarine». Aber das Unterseeboot der Bewegung in Basel ist nicht nur gelb, sondern dank dem Einsatz aller, wunderbar vielfarbig!

Diese Art von Standortbestimmung und Zukunftsausrichtung ist ein gängiges Werkzeug, ich möchte fast sagen eine kulturelle Eigenheit der Bewegung, um lokal, landes- und weltweit gemeinsame Handlungsfelder herauszuarbeiten und zu beschliessen. Und gleichzeitig geht es immer auch darum, die bestehende Organisationsform kritisch auszuwerten und im Dienste der neuen Handlungsfelder kreativ und horizontal weiter auszubauen. Hier liegt ein wichtiger Schlüssel, in gegenseitiger Verantwortung zu wachsen.

Intensiv, mit Herzblut und Scharfsinn haben sich die Mitmachenden zu den Fragen offen ausgedrückt. Zum Beispiel, zur Frage, was würde fehlen, wenn es ATD nicht gäbe, sagte eine Person: „In der Bewegung sind die Leute wie „verästelt“. Ein Ast hier, ein Ast dort. Der Treffpunkt kann kaputt gehen, das Haus in Treyvaux abbrennen, aber die Leute sind immer noch da. Wenn man „verästelt» ist, gibt es immer jemanden an unserer Seite.“

Eugen Brand, ATD Vierte Welt ständiger Volontär

Im Folgenden finden Sie einige der zahlreichen Beiträge, Bemerkungen, Anregungen und sonstigen Antworten, die in den 33 Gesprächen mit aktiven Mitgliedern der Bewegung in Basel geäussert wurden. Dieses Spektrum ist in kleinen „Rubriken“ dargestellt.

Auf die Frage, was eine Person motiviert, sich in der Bewegung zu engagieren, wurde oft geantwortet, dass man sich endlich ausdrücken kann, zusammen reden kann, dass man dadurch einen Lebenssinn findet und auch verwirklichen kann. „Hier kann man zu seiner Identität finden.“ Und sonst: „Es tut sich eine ganz neue Welt auf. Das erweitert jedes mal den Horizont. Man hat dann das Gefühl, dieser Welt anzugehören, und damit ändert sich wirklich etwas für uns.“

Was verbindet uns in der Bewegung? „Dadurch, dass man Menschen mit Geld niedermacht und ihnen die Gesundheit stiehlt, is man wie ein Tier, das am Boden kriechen muss, mit ständigen Peitschenhieben. Die Überzeugung von unserer ATD, dass die Menschenwürde unantastbar ist, gibt Hoffnung und verbindet uns, für die Rechte aller einzustehen und damit das Recht auf gleich viel Förderung von Klein auf in der Entwicklung seiner eigenen Intelligenz und seinen inneren Fähigkeiten.“

„Das Leben von Père Joseph ist wie unser Leben. Darum kennt er unseren Lebensmut, aber auch unsere Ängste, unsere Hoffnungen und unsere Verzweiflung von innen heraus.“

„Der Einsatz von Père Joseph, dass alle Menschen in Armut mit-denken, mit-handeln und mit-entscheiden können in unserer Gesellschaft, bleibt sehr aktuell.“

„Im Treffpunkt habe ich entdeckt, dass ich nicht allein bin.“ „Im Haus der Vierten Welt in Treyvaux können alle in ihrer eigenen Sprache reden. Es ist wie ein Heimkommen, ein Daheim-Sein. Ein Kraftzentrum, das sich auf alle überträgt. Man nimmt etwas Gutes mit nach Hause und hat dann wieder Kraft.“

Wichtige Herausforderung wurden aufgezeigt: „Manchmal ist es schwierig, miteinander zu reden, sich zu verstehen, seinen Platz zu finden und wie die andern mitreden können. Es gibt dann Streit. Gegenseitiges Vertrauen aufbauen ist schwierig und braucht Zeit, aber genau das ist es, was uns verbindet! Unter uns dürfen wir nicht das Gefühl haben, der eine hat etwas Besseres, dann kommt der Mittlere und dann kommt der Schlechtere. Dieses Hin und Her bringt nichts. Zusammenhalten braucht uns alle.“

„Es ist wichtig, alle bedingungslos so zu nehmen wie sie sind, aber man kann nicht immer sagen: Ja, ja, ja, du hast recht. Das Beste voneinander wollen, sich gegenseitig fördern, geht eben manchmal nicht ohne eine konstruktive Konfrontation.“

Es wurden auch Fragen im Zusammenhang mit Kultur aufgeworfen. Was machen wir, damit die Kultur in der Gesellschaft nicht ein Privileg für einige, sondern ein gelebtes Recht für alle ist? Was machen wir, damit Kultur im Treffpunkt nicht einfach etwas ist, das wir konsumieren?

Alle waren sich in den folgenden Punkten einig:

  • Wir müssen den Zugang zu neuen Personen und Familien in Armut finden. Uns hinterfragen, wo sie leben und wie wir mit ihnen an Ort eine Vertrauensbeziehung aufbauen können, damit sie wagen, in den Treffpunkt zu kommen. Hier liegt eine zentrale Verantwortung der Volontäre, in neuen Quartieren eine solche Präsenz aufzubauen.
  • Es muss uns gelingen, junge Menschen zu motivieren, mitzumachen.
  • Wir müssen auf die Folgen der Pandemie eingehen:
    • „Covid hat Einsamkeit, aber auch sehr viel Angst mit sich gebracht.“
    • „Es gibt solche, die sich deklassiert und abgehängt fühlen, gerade auch durch die digitale Entwicklung. Ihnen Gemeinschaftlichkeit, so etwas wie eine warme Stube.“
    • In der bestehende Strassenbibliothek gibt es zu wenig Kontakt mit Eltern und Familien, die eine lange Armutsgeschichte in der Schweiz haben. Im Bereich unserer Aktivitäten brauchen wir vermehrt eine Langzeit-Strategie.
    • In der Öffenlichkeitsarbeit und auf politischer Ebene werden die Erkenntnisse vom Forschungsprojekt „Armut – Identität – Gesellschaft“ sehr hilfreich sein.“

Wie hat sich der Kontext in Basel verändert?

„Mit der Zeit wurde die Armutsbekämpfung in Basel institutionalisiert und professionalisiert. Immer wieder entstehen neue Berufsgattungen. Es gibt eine Menge von Initiativen, Gruppen, Vereinen und Institutionen in diesem Bereich mit vielen verschiedenen Angeboten.“

„Es gibt heute auch neue Akteure, die Sachen machen, welche früher nur ATD gemacht hat. Z.B. geht jetzt die GGG auch mit Büchern in die Quartiere. Und das ist zum Teil auch dank ATD. Heute müssen wir schauen, was ist unser Mehrwert in Basel?“

Wie wollen wir uns weiter hin organisieren?

„Sich gegenseitig aufsuchen und auf Augenhöhe begegnen, das ist der Kern von ATD, wie wir uns organisieren wollen.“

„Die Personen im Team müssen untereinander gut auskommen, sich organisieren können, schlüssig sein. Wenn ein „Knopf“ in der Gruppe entsteht, müssen sie ihn auseinandernehmen können. Dazu braucht es einen Grundrespekt allen gegenüber.“

„Wichtig ist, vermehrt die Beziehungen mit der Bewegung in der deutschen Schweiz, dem schweizerischen Zentrum in Treyvaux gegenseitig lebendiger zu machen.“

„Ich finde es gut, dass es die Bewegung auch in vielen andern Ländern gibt, aber wir haben zu wenig Neuigkeiten, was dort passiert. Das sollte sich ändern.“