Sommerbotschaft 2025

Zeichnung von Andreï, 12, Bewohner des Mahalas | © Maria Dacheva / ATD Vierte Welt
Seht, unsere Schule !
Das Telefon im nationalen Zentrum in Treyvaux klingelt! Simeon, ein Schweizer Volontär im Team der Bewegung ATD Vierte Welt in Sofia, Bulgarien, sagt mit ernster Stimme: „Heute Morgen um 5 Uhr kam die Polizei und gab den Familien von Mahala* eine Stunde Zeit, um alles, was sie behalten wollten, mitzunehmen, bevor die Bulldozer begannen, ihre Häuser abzureissen.“
Nach Tagen und Nächten des Wartens und unaufhörlichen Vorstössen bei Behörden und andern Stellen – nachdem der Bürgermeister vor einem Monat die Zerstörung des Quartiers angekündigt hatte – musste man die befürchtete Zwangsräumung über sich ergehen lassen. Und das, sechs Tage vor Ostern, dem meistgefeierten Fest in Bulgarien, bei dem die Familien sich zusammenfinden! Das ATD-Team – Maria, Lou und Simeon – war an diesem Morgen vor Ort. Aus Furcht, dass die Behörden zur Tat schreiten würden, hatten sie die letzten beiden Nächte mit den Familien verbracht, die sich um ein Feuer versammelt hatten, genau an dem Ort, an dem Lou und Simeon seit zwei Jahren jeden Mittwoch und Samstag zusammen mit einheimischen Jugendlichen Decken, Bücher und Stifte für die Strassenbibliothek hinlegten. Sie erinnern sich an die Glücksmaschine, welche die Kinder bauten und die ihre Eltern sagen liess:
„Glück ist die Ruhe, die man nie hat.“
Und zuletzt das Vorlesen von Das Haus der Barbapapas, einer Geschichte, in der es darum geht, wie die Barbapapas aus ihrem Haus vertrieben werden. Sie gab den Kindern die Möglichkeit, auszudrücken, was sie erleben und erhoffen. Die Kinder bastelten Häuser aus grossen Kartons: „Dieses Haus ist zweistöckig und hat vier Wohnungen, damit meine Onkel und Tanten auch darin wohnen können.“
Innerhalb von sechs Stunden ist das Quartier zerstört. Die Familien versammeln sich vor dem Rathaus, weil sie nicht wissen, wohin sie gehen sollen. „Wir sind keine Hunde, wir haben ein Recht auf eine würdige Unterkunft, die es uns ermöglicht, unsere Kinder grosszuziehen und zu arbeiten.“ Die Stadtverwaltung spricht von etwa 50 Vertriebenen. Das ATD-Team erfasst mehr als 200 Personen. Und gemeinsam mit ihnen, wurde eine Sammelklage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht.
Der erste Abend kommt, und die meisten Familien können nicht anders, als in die Ruinen ihres Quartiers zurückzukehren, wo dank gegenseitiger Hilfe Zelte aufgestellt werden, um die Nächte zu überstehen. Das Team hält daran fest, die Strassenbibliothek dort weiterzuführen, eine wertvolle Zeit mit diesen Kindern, die durch so viel Gewalt verunsichert sind. Die Eltern laden das Team ein, Decken, Bücher und Stifte auch vor dem Rathaus auszulegen, wo ein Zelt aufgestellt wurde. „Nicht unter dem Zelt! Sondern gut sichtbar für die Behörden!“ „Seht euch die beste Schule an, die wir für unsere Kinder haben!“, sagen sie stolz, ihr Handy in der Hand, um sie zu filmen und die Bilder zu verbreiten.
In dieser chaotischen Zeit verleihen diese Mütter und Väter durch ihren unermüdlichen Kampf um Würde allen Strassenbibliotheken Kraft und Anerkennung, indem sie sie begleiten mit ihrem Mut und ihrer Hoffnung für die Zukunft aller Kinder: Unter den Strassenlaternen in Ouagadougou, auf den Feldern in Kuyo Grande, während der Wochen der Künste und des geteilten Wissens im Quartier Les Libellules in Genf oder in den Strassenbibliotheken an der Belforterstrasse in Basel.
* Mahala: Ein bulgarisches Wort für eine Roma-Siedlung. Die Siedlung wurde vor etwa 100 Jahren auf städtischem Land errichtet. Trotz der Versuche der BewohnerInnen wurde ihnen nie das Recht zuerkannt, legal dort zu leben.