Sommerbotschaft 2024 – Spendenaufruf

Treyvaux - Zeichnung von Alain Meilen

„Das Beste von einem selbst, das endlich geteilt wird, ist in der Tat die Antwort auf die menschliche Frage der Ausgrenzung.“

Joseph Wresinski, Kolloquium „Kultur und Armut“, 1985

Das Familienferienhaus in Treyvaux

Auf dem Hügel über dem Dorf, umgeben von Weiden und Obstgärten, steht das Familienferienhaus in Treyvaux.

Zusammen mit einer anderen Familie konnte Sonia mit ihren drei Kindern für das Wochenende dorthin reisen. Der achtjährige Leo lebt in einem Kinderheim. Die beiden kleineren Kinder sind bei Pflegeeltern.

Kaum aus dem Auto ausgestiegen, rennt Leo los, trunken von Freiheit. Frei von den Zwängen des Heims wechselt er vom Roller auf den Trettraktor, klettert über Zäune und balanciert auf dem Dach des Fahrradschuppens … Sonia schaut ihn an. Wird man ihr auch hier vorwerfen, dass ihr Sohn unhaltbar ist? Ihr grösster Traum ist es, dass ihre Kinder nicht noch einmal die Zerrissenheit erleben müssen, die sie selbst erlitten hat. „Ich habe in meiner Kindheit so viel Gewalt erfahren, dass ich als Kind dachte, dass Schlagen normal ist.“

Obwohl sie nicht das erste Mal in dieses Haus kommt, beobachtet Sonia ängstlich Florent und die anderen Mitglieder von ATD Vierte Welt, welche sie aufnehmen. Sie kennt die Teilnehmenden noch nicht sehr gut, aber sie hat das Gefühl, dass sie hier, mit den Familien, die ihrer eigenen Situation so ähnlich sind, nicht verurteilt wird. Als Kind hätte sie gerne einen solchen Ort kennengelernt.

Florent ist ein Bildhauer. Er trägt die Freiheit in sich. Um anderen zu ermöglichen, diese Freiheit zu leben, hat er sich in seinem Heimatland Burkina Faso einem ständigen Volontärdienst angeschlossen. Sein Engagement führte ihn bei dieser neuen Aufgabe in der Schweiz, wo er heute mit seiner Frau und seinen Kindern lebt. Bei einem früheren Familienaufenthalt hatte Florent die Gewaltausbrüche Leos bemerkt, aber auch sein Bedürfnis, sich manchmal zu verstecken. „Ihm ein Versteck inmitten von Menschen zu bauen, das ist eine Idee, die ihm gefallen dürfte“, sagte er sich und legte einen grossen Verpackungskarton beiseite. Normalerweise hält man gefährliche Utensilien von Leo fern. Doch Florent entscheidet sich bewusst dafür, ihm ein Messer in die Hand zu drücken, um den Karton zu zerschneiden und sein Haus zu bauen. Leo ist stolz. Er schneidet eine grosse Tür aus und schreibt darüber: „Das ist Leos Haus.“

Wenn Leo nervös wird, spürt Sonia das. Sie findet die richtigen Worte, um ihn zu beruhigen. Sie sagt gerne: 

„Als Eltern wollen wir unsere Kinder auch schützen, das können nicht nur die Erzieher.“

Und das Hühnerhaus, können wir da hin?“ Bei seinem letzten Besuch hatte Leo dort wie ein Fuchs Angst und Schrecken verbreitet. Diesmal geht Leo langsam in das Gehege und hält Florents grosse Hand fest. „Sie werden dich nicht beissen“, lächelt seine Mutter,„wenn du keine Angst hast, haben sie auch keine Angst.“ Leo nimmt ein rotes Huhn auf den Arm und streichelt es. „Oh, das ist ganz warm! Es fühlt sich gut bei mir, hast du gesehen?“ Das Huhn ist gut. Leo geht es gut. Schliesslich sammelt Leo mit einer ihm unbekannten Vorsicht die Eier ein und trägt sie in die Küche, ohne ein Einziges zu zerbrechen.

Später wird Sonia sagen: 

„Dort habe ich meinen ersten richtigen Urlaub mit meinen Kindern verbracht. ATD Vierte Welt ist eine Kraft, die uns vereint und es uns ermöglicht, dort weiterzumachen, wo wir uns schon verloren glaubten.“