Mitgefühl und tatsächliche Hilfe
![Übergebung des Schlussberichts](https://atd.ch/de/wp-content/uploads/sites/2/2024/11/DM_7231-Enhanced-NR-708x400.jpg)
Alain Meylan, Aktivist von ATD Vierte Welt, überreicht Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider den Schlussbericht der Forschungsarbeit „Armut – Identität – Gesellschaft“ anlässlich des Symposiums Endlosschlaufe Armut: welche Verantwortung für unsere Gesellschaft? am 9. Mai 2023 in Bern. © Matteo De Mattia
Was ist der Unterschied zwischen Mitgefühl und Hilfe? Tatsächlich Hilfe setzt voraus, dass man sich hineinversetzt in, z.B., Armutserfahrung. Erst dann kommt Hilfe gezielt und überlegt zum Zug.
Als ich 2020 die Bewegung ATD Vierte Welt kennenlernen durfte, war ich mir nicht so sicher ob es sich um Mitgefühl oder tatsächlich um Hilfe dreht. Die Bewegung war für mich ein Buch mit sieben Siegeln – ich hatte vor allem schlechte Erfahrungen mit Sozialdienst Angestellten. Aber von ATD Mitgliedern wurde ich gefragt, was denn meine Ohnmachtserfahrungen seien und wie sie hätten vermieden oder gelindert werden können.
Jeder Mensch kann in eine Situation geraten in der er keine Macht darüber hat, was mit ihm passiert. Meiner Meinung und Erfahrung nach, braucht es genau dann kompromisslose Augenhöhe. Mitgefühl können nur Leute nachvollziehen, die mitgelitten haben (oder leider noch mitleiden) – und nur jene, die schonungslose Selbstreflexion betrieben haben, können dieses Mitgefühl richtig ausdrücken. Hätte Joseph Wresinski, der Gründer von ATD Vierte Welt, damals nicht selbst überlegt, was es heisst, keine saubere Kleidung zu haben und die schier unmögliche Situation, sauberes Wasser um sie zu reinigen beschaffen zu können, hätte wohl nie eine Waschmaschine den Weg in die Armensiedlung in Noisy-le-Grand gefunden.
Warum ist es nur so schwierig, Menschen zu Selbstreflexion zu bringen – es tut nicht weh und löst scheinbar unlösbare Probleme auf pragmatische, unkomplizierte, lösungsorientierte und meist kostengünstige Weise. Dazu kann z.B. ein Treffen in Treyvaux beitragen: Was ist billiger als ein Sammeltaxi; was ist aufwandärmer als ein Risotto kochen und servieren; was ist effizienter als das Wissen von Menschen mit Armutserfahrung durch Weiterbildung aufzubauen; was ist wirksamer als dieses Wissen mit Fachleuten zu erarbeiten und vervollständigen?
Das hat ATD Vierte Welt mit dem Bericht Beziehungen zwischen Institutionen, der Gesellschaft und Menschen in Armut in der Schweiz: eine Gewalterfahrung, die weitergeht getan. Für mich ist es ein Anliegen, diesen Bericht jeweils mit einer Gruppe von andern ATD Mitgliedern vorzustellen – und es gab schon einige vielversprechende Dialoge an wichtigen Anlässen! Dieses Sprungbrett ist eine wunderbare Sache! Ja ich wurde 2020 einfach ins kalte Wasser geworfen. Aber jetzt schwimme ich und es hat sich als erfrischend für mich herauskristallisiert.
Marianne Rossel, Aktivistin von ATD Vierte Welt