Kontakt mit der ATD Vierten Welt in Basel

1945 wurde Rösli Wirz, damals gerade zwei Jahre alt, zusammen mit ihrer jüngeren Schwester in ein Kinderheim des „Gott hilft“ Werks in Dicken eingewiesen. 18 Jahre ohne Eltern und den nicht immer einfachen Verhältnissen eines Heimalltages ausgeliefert, hinterliessen bei Rösli prägende Spuren. Gezeichnet von jahrelangen Demütigungen, gelang es ihr auch nicht, beruflich Fuss zu fassen. Mit 24 Jahren heiratete sie und bekam drei Kinder. Doch die Ehe führte sie erneut in den Abgrund.
Trotz ihrer schwierigen Vorgeschichte fing sich Rösli immer wieder auf und fand in der Gassenküche Basel, dem Sonntagszimmer in der Matthäuskirche und bei der Bewegung ATD Vierte Welt Menschen, die ihr Leben bereicherten. Unter der Mithilfe von Claude Hodel hat sie nun ihre Lebensgeschichte niedergeschrieben.
Der folgende Text ist ein Auszug aus ihrem Buch Mein gezeichnetes Leben. Der schwierige Weg vom Kinderheim in ein Leben danach.
Im Juni 2016 lernte ich durch die Sozialdiakonin der Reformierten Kirche Kleinbasel, Mirjam Baumann, die ATD Vierte Welt kennen. Zusammen besuchten wir im Treffpunkt der ATD Vierten Welt eine politische Diskussionsrunde, an der auch über die nationalen Abstimmungsparolen ausgetauscht wurde. An diesem Abend stellte Claude, der die Arbeitsgruppe Politik leitet, auch das „Fortpflanzungsmedizingesetz“ vor. Bei diesem Gesetz geht es drum, dass gezeugte Embryos vor der Einpflanzung im Mutterleib untersucht werden können. Das war für mich ein sehr schwieriges Thema. Trotzdem konnte ich etwas davon verstehen, weil es uns ganz einfach erklärt wurde. Politik war und ist fremd für mich und ich bin auch nicht besonders daran interessiert, aber dieser Abend war sehr spannend.
Da ich bis Dezember 2017 nicht weit vom Treffpunkt der ATD Vierten Welt wohnte, besuchte ich ab und zu den Offenen Treffpunkt sowie die Hobbynachmittage. Dort lernte ich verschiedene Leute kennen. Die erste Person, die mir in Erinnerung bleibt, ist Rosmarie, denn sie war viel im Treffpunkt anzutreffen. Rosmarie kennt die Bewegung ATD Vierte Welt schon seit vielen Jahren. Auch David und Matthias sind mir immer noch sehr präsent. Beide sind geistig beeinträchtigt. Zuerst dachte ich, was sind das für komische „Käuze“, aber bald einmal merkte ich, was für spezielle Menschen sie sind. Ich hatte Spass an ihnen, denn sie waren nie aufdringlich, immer fröhlich und haben viel gesungen. So dachte ich mir: „Sie sind trotz ihrer Behinderung intelligent“.
Im Sommer 2017 wurde ich von Christine angefragt, im Nähatelier für die Schweizer Tournee des Musiktheaters „Verborgene Farben“ mitzuwirken. Wegen meiner fachlichen Erfahrung konnte ich mich aktiv an den Näharbeiten der verschiedenen Kostüme für die Chormitglieder und Statisten einbringen. Es war eine grosse und nicht imm er einfache Arbeit, die wir für alle Auftritte in der Schweiz zu bewältigen hatten. Oft mussten wir die Kostüme wieder auftrennen, weil etwas nicht richtig zusammengenäht worden war oder die Anleitung unklar war. Allein für den Chor stellten wir sechs verschiedene Kostüme her und das für je 20 Personen. Doch diese Aufgabe bereitete mir viel Spass.

Einmal – es war schon dunkel draussen – sass ich immer noch im Treffpunkt beim Nähen eines Baby Dolls, als die Chormitglieder mit ihren Proben anfingen. Da ich mit dem Nähen nicht richtig vorankam, sass ich einfach ruhig im Hintergrund auf einem Stuhl und hörte dem Chor zu. Plötzlich gab mir Claude die Lieder in die Hand. „Hoppla“, dachte ich mir und schaute ihn nur so an: „Ich kann doch nicht singen und verstehe zum Teil die Texte auch nicht“. Doch Claude sagte nur: „Du schaffst das auf jeden Fall, da bin ich überzeugt“. So bin ich also wieder in eine spezielle Aktion hineingerutscht, wie bei der Gassenküche, dem Sonntagszimmer mit dem Theater, in die ATD Vierte Welt und dann noch im Chor für das Musiktheater. Auch wenn ich anfänglich sehr skeptisch und unsicher war, fühlte ich mich bald im Chor sehr wohl. Katharina, die Chorleiterin, munterte uns immer wieder auf. Einmal sagte sie: „Wenn es nicht geht, dann tut doch einfach so als würdet ihr singen“. Da sagte ich mir: „Ja wenn ich es nicht kann, werde ich einfach nur den Mund bewegen, als würde ich singen“. Das war für mich eine grosse Erleichterung und gleichzeitig eine Motivation zum üben. So nahm ich die Lieder mit in die Ferien und versuchte auf dem Balkon, die fremdländischen Texte zu lesen. Plötzlich hörte ich im Hintergrund aus der Küche meine Tochter, die schrillend anfing zu lachen und mich fragte: „Was liest du denn da?“. „Das weiss ich doch nicht, ich habe keine Ahnung. Ich kann ja auch nicht französisch. Das steht einfach so da. Ich muss das jetzt üben, damit ich beim Chorauftritt mitsingen kann“, erklärte ich ihr. Dann half sie mir die Texte besser zu lesen.
Die Mitwirkung bei diesem grossartigen Musiktheater war für mich ein besonderes Erlebnis. Das Ganze hat mir enorm viel Spass bereitet und ich werde die Auftritte nie vergessen. Dieses intensive halbe Jahr mit den Näharbeiten, Chorproben und Auftritten in Olten, Liestal sowie in Basel führte auch zu einem vertrauten Verhältnis mit vielen andern Mitwirkenden der ATD Vierten Welt. Ich lernte neue Leute kennen und konnte einige Beziehungen vertiefen.
Immer mehr sehe ich die ATD Vierte Welt als einen Ort, wo ich mich zuhause fühle, auch wenn ich nicht mit allen ein vertrautes Verhältnis habe. Es gibt vieles, was mir Spass macht und ich gerne dabei bin. Ich denke da etwa an die kulturellen Anlässe wie den Ausflug zum Vogelpark Steinen oder den Besuch in der Schaukäserei Gruyère, die gemütlichen Nachmittage beim Plaudern und Kaffee trinken im Treffpunkt. Eigentlich bestehen viele Ähnlichkeiten mit dem Sonntagszimmer.
Ich freue mich auch sehr, dass ich meine Glasritzkunstwerke zusammen mit den Bildern von Jasmin ausstellen konnte. Ich war sehr beeindruckt, wie viele Leute an der Vernissage teilnahmen. Diese Bilder erinnern mich an die Zeit in Flüh und im Gundeli, als ich in der Klubschule Migros den Glasritzkurs besucht habe und mich dabei etwas vom Alltag entspannen konnte. Es war damals für mich eine gute Gelegenheit, andere Leute kennen zu lernen, damit ich nicht zu viel alleine zuhause war. Zudem brachte mir dieser Kurs eine ideale Abwechslung zu den Hausarbeiten und der Kinderbetreuung.
Rösli Wirz, ATD Vierte Welt Verbündete
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