Kantone ohne Langzeitarbeitslosigkeit

„Kantone ohne Langzeitarbeitslosigkeit“

„Niemand ist unbrauchbar!“

Gespräch mit Dominique Froidevaux, Direktor von Caritas Genf und Freund der Bewegung ATD Vierte Welt, zum Verein „Cantons Zéro Chômeurs de très longue durée“ (Kantone ohne Langzeitarbeitslosigkeit), den Caritas für die welsche Schweiz lanciert hat. Dieses Projekt ist in Frankreich von ATD Vierte Welt angestossen worden und wird dort seit 2015 auch in Partnerschaft mit dem Secours Catholique (Caritas) geführt. 

Die Fragen stellten Elisabeth Gillard und Anne-Claire Brand

Welches sind die Grundlagen dieses Projekts in der Schweiz?

Dominique Froidevaux: Über Motionen in verschiedenen Kantonen und auf nationaler Ebene haben kantonale Armutsberichte im Jahr 2010  die Statistiken der für Armut zuständigen In-stanzen vervollständigt. Sie ergaben eine breitere Sicht der Armutsrisiken, denen zahlreiche armutsbetroffene Arbeiterinnen und Arbeiter ausgesetzt sind. Und sie führten zur entscheidenden Frage der Langzeitarbeitslosigkeit. 

Diese widerspricht der gängigen Meinung, die Schweiz sei ein Land der Vollbeschäftigung mit sehr wenig Arbeitslosigkeit. Es gilt deshalb zu zeigen, wie die Statistiken aufgebaut sind und was sie ausser Acht lassen. Die Schweiz veröffentlicht jene der offiziell deklarierten Arbeitslosen. Aber wenn ein regionales Arbeitsamt eine Person nicht mehr begleitet, so gilt sie nicht mehr als eingetragene arbeitslose Person und sie fällt aus der Statistik. 

Eine wichtige Frage: „Können alle hoffen, wieder Arbeit zu finden?“

Dominique Froidevaux: Natürlich muss man so umfassend wie möglich planen, aber es wäre nicht realistisch zu sagen, man habe eine Lösung, damit sich diese Hoffnung für alle sofort realisiert. Im Projekt Kantone ohne Langzeitarbeitslosigkeit wird jeder Stellensuchende, egal in welcher Situation er sich befindet, als solcher bezeichnet. Genauere Statistiken schätzen, dass in der welschen Schweiz mindestens 10’000 Personen zu den Langzeitarbeitslosen und den Arbeitsuchenden gehören. Man weiss auch, dass man nicht mehr mit den Lebensläufen arbeiten wird, denn sie sind oft disqualifizierend. Wenn man einen vom Elend gezeichneten Lebenslauf hat, so zeigen sie nur diesen, sagen aber nichts über andere Kompetenzen. Man wird also in Partnerschaft mit der arbeitsuchenden Person vorgehen, um  dem möglichen Arbeitgeber den Wert ihrer ganzen Erfahrung aufzuzeigen. Deshalb hat man sich für die Grundlagen interessiert, mit denen sich ATD Vierte Welt, der Secours Catholique und weitere französische Organisationen auf den Weg gemacht haben.  

Sie sagen, dass weder die Arbeitsplätze noch das Geld oder der Wille fehlen. 

Dominique Froidevaux: Tatsächlich ist es nicht die Arbeit, die fehlt. Es gibt zahlreiche nicht gedeckte Bedürf-nisse, die  Gegenstand bezahlter Arbeiten sein könnten. Und es ist auch nicht das Geld, das fehlt. Das hat das  Projekt „Null Langzeitarbeitslose“ in Frankreich gezeigt, indem es „die passive Ausgabe“ mobilisiert hat. Diese steht für alles, was für die Sozialhilfe gebraucht wird, aber weder Anstellung noch Würde vermittelt. Die Sozialhilfe hat eine disqualifizierende Wirkung, denn je länger man arbeitslos ist, umso dauerhafter ist man auf Sozialhilfe angewiesen und wird man in den Augen möglicher Arbeitgeber disqualifiziert. 

Und was die Saläre betrifft?

Dominique Froidevaux: Ich werde keine definitive Antwort geben, denn es hängt von den Verträgen ab, die in den Kantonen erarbeitet werden. Von dem Moment an, in dem man Teil der realen Wirtschaft ist, müssen die Grundlöhne wie für normale Angestellte gelten, das ist unser Ziel. Man muss vom System der unterbezahlten Löhne wegkommen, sonst wird man die Gewerkschaften nie vom Wert unseres Projekts überzeugen können. Eine würdige Arbeit muss würdige Lebensbedingungen sichern mit einem anständigen  Lohn für jede Person. 

In der Juninummer Ihrer Zeitung für die welsche Schweiz erklären Sie, wie diese Massnahmen Gegenstand einer Absprache einerseits mit Behörden 

und zuständigen öffentlichen Diensten sein werden, und anderseits mit Organisationen, die zu ihrem Funktionieren beitragen werden. Wie sehen Sie da den Platz von ATD Vierte Welt?

Dominique Froidevaux: Diese Rolle einer „ethischen und bürgerschaftlichen Wache“ und der „Beobachtung durch betroffene Personen“ wird wesentlich sein, um in der Dynamik von Null Langzeitarbeitslosen zu bleiben. Es wird institutionelle Anliegen geben, aber es liegt uns wirklich viel an den Organisationen, die helfen, das Ziel und die Vision dieses Projekts im Auge zu behalten. 

ATD Vierte Welt hat meiner Meinung nach wirklich ihren Platz, um eine der Stimmen zu sein, die diese „Wache“ sichern.