Jürg Meyer

Jürg Meyer – 60 Jahre Engagement in der Bewegung ATD Vierte Welt

60 Jahre Engagement in der Bewegung ATD Vierte Welt

Jürg Meyer am Sommerfest 2005 im Schweizer Zentrum von ATD Vierte Welt. © ATD Vierte Welt.

Am 28. April ist Jürg Meyer (82) in Basel verstorben. Er war Vorstandsmitglied und Ehrenpräsident von ATD Vierte Welt Schweiz. Als promovierter Jurist, Journalist und Grossrat im Kanton Basel-Stadt war für ihn die Stimme der Menschen in Armut immer von zentraler Bedeutung.

«Er war ein toller Mensch, von dem man vieles lernen konnte.» So würdigt Eva Teuscher, ATD-Aktivistin in Basel, den Verstorbenen. Sie fährt fort: «Er war aber auch da mit Rat und Tat. Er hat immer sehr gerne viel geholfen, egal wie schwierig es auch mal war. Auch hatte er immer ein offenes Ohr. Spannend fand ich, dass er zuhören und gleichzeitig Notizen machen konnte. Und in kurzer Zeit war auch ein wichtiger Brief, den man mal brauchte, fertig. Er konnte auch Sachen und Dinge erklären, so dass sie von allen verstanden wurden. Und noch so vieles mehr konnte er. Für alle, die ihn kennenlernen durften, war das ein toller Moment. »

Jürg Meyer war Gründungsmitglied und von 1970 bis 2004 Präsident der Bewegung ATD Vierte Welt in der Schweiz. Als Journalist bei der Basler Zeitung  und  Verbündeter der Bewegung hat er zur Formulierung einer journalistischen Professionsethik beigetragen, welche die stimmlos gemachten Personen und Gruppen berücksichtigt, ohne sie zu stigmatisieren. Er berichtet davon in seinem Beitrag zum Buch  Artisans de démocratie (Handwerker der Demokratie) von Jona Rosenfeld und Bruno Tardieu. Jürg Meyer erzählt dort auch von den Anfängen seines Engagements und von seinen ersten Begegnungen mit Joseph Wresinski, 1961 im Lager von Noisy-le-Grand:

Erste Berührungen mit dem Elend

«Ich bin in Riehen, in der Nähe von Basel, in einer eher wohlhabenden Mittelstandsfamilie geboren. Mein Vater war Chemiker. Ich erinnere mich, dass ich mit armen Kindern aus Basel in die Primarschule ging. Das hätte ich nicht gewusst, wenn nicht der Lehrer gesagt hätte, dass diese Kinder arm sind. Diese Ettikettierung verwirrte mich. Einmal besuchte unser Lehrer die Eltern eines Schülers. Am nächsten Tag erzählte er der Klasse, wie arm die Familie war, dass es nur zwei Zimmer für die ganze Familie und sehr wenig Möbel gab. Bis zu diesem Tag hatten wir Kinder ganz normal mit diesem Schüler gespielt, ohne Fragen zu stellen. Dann, ein paar Monate später, mitten im Schuljahr, zog die Familie aus unbekannten Gründen weg und wir haben den Jungen aus den Augen verloren. Er blieb uns aber als Frage im Gedächtnis. Ich habe ihn und die Etikette, die ihm angeheftet wurde, nie vergessen.»

In den Basler Notsiedlungen

«Ich wurde auch durch eine protestantische Erziehung beeinflusst, die bezeugt, dass uns das Leben gegeben ist, damit wir mit anderen solidarisch sind. Dies führte dazu, dass ich dem Service Civil International SCI beitrat. Dieser wurde nach dem Ersten Weltkrieg gegründet, um Zeugnis für den Frieden abzulegen, internationale Jugendarbeitslager zu organisieren, eine Alternative zum Militärdienst zu schaffen und Dienstverweigerer aus Gewissensgründen anzuerkennen. So konnte  ich mit anderen Jugendlichen aus Europa an Arbeitseinsätzen teilnehmen, wie z.B. dem Bau einer Strasse in den Alpen während eines Sommers, Wohnungsrenovierungen, Holzverteilung. Dabei lernte ich die Basler Notsiedlungen kennen. Während der Arbeit sprachen wir mit den Familien und erfuhren, dass die Armut ein ständiger Überlebenskampf ist. Es war der SCI, der mich darüber informierte, dass Freiwillige für den Bau von Häusern in dem Obdachlosenlager gesucht wurden, das Abbé Pierre in Noisy-le-Grand eingerichtet hatte.»

Die Welt von Noisy-le-Grand aus gesehen

«Das erste Mal, dass ich nach Noisy-le-Grand fuhr, war in den Sommerferien 1961. Ich erzählte meine Eindrücke Katharina Scherr, einer Kindheitsfreundin, die Kindergärtnerin war, und sie ging im folgenden Jahr dorthin. Ich kehrte im Februar-März 1962, im Sommer 1963 und erneut im Frühjahr 1964 auf Einladung von Père Joseph zurück, um mit Wissenschaftlern an einem Symposium der UNESCO über extreme Armut teilzunehmen. Wie gesagt, ich hatte schon vorher sehr arme Stadtteile gesehen. Es war nicht das Elend selbst, das mir auffiel. Ich behalte von diesen Aufenthalten in Noisy vor allem, dass wir uns jede Woche trotz dringlicher Notlagen, trotz Kälte, Schlamm, Hunger und Gewalt Zeit nahmen für ein langes Treffen mit Père Joseph. Ich lernte dort eine ganz neue Sicht der Armut und der Welt mit den Augen der Armen, die meine eigene Sichtweise in Frage stellte. Hier bekamen einige frühere Erfahrungen nach und nach einen Sinn.»

Arbeitstreffen mit Joseph Wresinski

«Am Anfang dachte ich, die einzig berechtigte Frage sei diejenige einer besseren Verteilung des Reichtums: Wie kann man bei den Reichen nehmen, um den Armen zu geben? Bei diesen von Père Joseph geleiteten Arbeitstreffen entdeckte ich einen anderen Ansatz: Es ging vor allem um menschliche Würde, um gesellschaftliche Anerkennung, um Protest gegen die soziale Ausschliessung, um den Wunsch nach Ausdrucksmitteln. Erst anschliessend kam die Frage nach der Verteilung des Reichtums. Ausserdem sprachen wir von bestimmten Familien und versuchten ihre Sicht der Dinge zu verstehen. Père Joseph liess uns auch über unsere eigenen Reaktionen gegenüber dem Elend nachdenken. Er zog ständig die Verbindung zwischen Ereignissen im Lager und den Ereignissen in der Welt. Nach und nach wurde ich mir bewusst, dass dieses globale Denken über die Welt aus der Sicht von unten einen grossen Wert hat und dass ich daran arbeiten musste, es mir anzueignen. Ich beschloss, mich der ATD Vierte-Welt-Bewegung anzuschliessen. Katharina Scherr hat das gleiche getan. Wir brachten neue Fragen mit zurück in unsere Stadt Basel, die uns die Welt anders sehen liessen. »

Jürg Meyer, mit Bruno Tardieu: «Les médias face aux sans voix. Des citoyens ignorés interrogent l’éthique du journal Basler Zeitung», in: Jona M.Rosenfeld et Bruno Tardieu, Artisans de démocratie, Paris, 1998, Seiten 97-108.

In ihrem Buch Menschenwürde – Menschenrechte – Soziale Arbeit (Budrich-Verlag, 2019) geht Silvia Staub-Bernasconi auf Jürg Meyers Bericht Engagement als Journalist und Verbündeter von ATD Vierte Welt ein. Mit freundlicher Genehmigung der Autorin stellen wir die entsprechenden Seiten hier zum Download zur Verfügung.