Ich gebe meine Schürze ab


Erica Forney (links) und Pierrette Baur in der Küche des nationalen Zentrums in Treyvaux während des Sommerfests 2024. © Eugen Brand / ATD Vierte Welt

An einem Abend im Herbst 1974 verbringe ich das Wochenende bei Freunden, die sich für ein Jahr bei der Bewegung ATD Vierte Welt engagieren. Da sie in der Crausa in Treyvaux zu einem Raclette bei Hélène und Jeanpierre Beyeler, den damaligen Verantwortlichen von ATD in der Schweiz, eingeladen sind, begleite ich sie. An diesem Abend lerne ich Hélène kennen und ihr Engagement spricht mich an.

Am Sonntagabend kehre ich zu meinem Alltag und meinem Engagement für die Jugendgruppen der Pfarrei zurück. Eines Tages erinnert mich ein Brief an meine Begegnung mit Hélène. Sie schlägt mir vor, Teil der Schweizer Delegation an einem Symposium der Bewegung im Rahmen des Internationalen Jahres der Frau zu sein. Ich antworte ihr in einem Brief (damals dauerte das immerhin ein paar Tage), dass ich nicht daran denke, mich zu verpflichten, und deshalb nicht als „Touristin“ nach Paris fahren wolle. Die Zeit vergeht. Und Anfang 1977 teilt mir ein neuer Brief aus Treyvaux mit, dass ATD Vierte Welt sich darauf vorbereitet, Familien aus den Pariser Elendsorten für Ferienaufenthalte aufzunehmen. Ihnen fehlt eine Person, die das Team für die Vorbereitung der Räume und die Aufenthalte der Familien ergänzt. Zu diesem Zeitpunkt habe ich keine Pläne mehr, ausser meinen im März geborenen Sohn grosszuziehen. Wenn Hélène der Meinung ist, dass es möglich ist, dieses Engagement unter diesen Bedingungen durchzuführen, bin ich bereit, für ein Jahr nach Treyvaux zu kommen!

Vierzig Jahre später ging ich in den Ruhestand, nachdem ich viele Aufgaben übernommen hatte: die Betreuung von Familienferien, die Leitung von Reflexionsgruppen, die Organisation von festlichen Anlässen, die Teilnahme an Tapori-Gruppen und viele Jahre lang verschiedene Aufgaben im nationalen Sekretariat. Intensive Jahre der Arbeit, des Engagements, der Begegnungen und auch der Fragen. Es gab bereichernde und glückliche Abschnitte, aber auch schmerzhafte Zeiten angesichts unserer Ohnmacht gegenüber den Schicksalsschlägen, die Familien auseinander rissen. Trotz allem behielten wir den Kurs bei – aus Respekt. Es war nicht an uns, die Hoffnung aufzugeben und den Mut zu verlieren. All diese Familien verdienten das Beste, das Beste von uns.

Ich erinnere mich an eine Begegnung mit einer jungen Frau, die im sozialen Bereich studierte. Ich empfing sie in unserem „grossen Saal“. Sie schaute sich um und sagte: „Es ist sehr schön, aber haben Sie keine Angst, dass die Familien, die Sie aufnehmen, sich von dieser Umgebung angegriffen fühlen, da sie es eher gewohnt sind, in ‚heruntergekommenen und hässlichen‘ Orten zu leben?“ Ich war sprachlos. Wie konnten solche Gedanken in den Kopf einer Person gelangen, die eine soziale Arbeit mit den am stärksten benachteiligten Bevölkerungsgruppen anstrebte?

Dies geschah vor vielen Jahre, ich war damals eine junge Volontärin, aber ich habe es nie vergessen können. Vielleicht waren es diese Worte, die mich in meinem Willen bestärkt haben, alles zu tun, um mich niemals mit dem Mittelmässigen, dem Geringsten zufrieden zu geben, in meiner Beziehung zu diesen Frauen, Männern und Kindern, deren Leben von Entbehrungen und Ausgrenzung geprägt ist. Und auch heute noch sage ich mir immer wieder, dass sie das Recht auf das Beste haben.

Und diese Überzeugung hat mein Engagement in all diesen Jahren und auch nach „meiner Pensionierung“ genährt. Ich habe also weitergemacht und die Verantwortung für die Mahlzeiten bei verschiedenen Veranstaltungen im nationalen Zentrum in Treyvaux übernommen. Trotz aller Freude, dieses Engagement mit dem Küchenteam geteilt zu haben, gebe ich heute „meine Schürze ab“, wie man so schön sagt, nicht im übertragenen Sinne, sondern wirklich. Ich bin mir des Privilegs bewusst, dass ich meine Überzeugungen in die Tat umsetzen durfte. Und ich bin allen dankbar, die mich dabei begleitet haben. Vielen Dank!

Erica Forney, Bewohnerin des Dorfes Treyvaux, 50 Jahre Engagement mit ATD Vierte Welt