Falsche Vorstellungen über Armut – Institutionelle Misshandlung

Man muss nicht umbedingt die Strasse überqueren, um Arbeit zu finden. Manchmal reicht es, in der Mitte zu stehen. Falsche Vorstellung Nr. 5: „Man muss nur die Strasse überqueren, um Arbeit zu finden“ von Philippe Geluck

Im Januar 2025 gab der Verlag „Éditions Quart Monde“ einem bereits 2012 veröffentlichten (und seitdem mehrfach neu aufgelegten und aktualisierten) Buch mit dem bedeutungsvollen Titel En finir avec les idées fausses sur les pauvres et la pauvreté1 (Schluss mit falschen Annahmen über die Armen und die Armut) eine neue Wendung. Das Besondere an der Fassung 2025 ist, dass sie den Schwerpunkt auf die „institutionelle Misshandlung“ legt, wie sie von vielen von Armut betroffenen Personen in Frankreich erlebt wird. Damit stellt sie einen direkten Bezug her zu einem bereits 2023 erschienen Bericht von ATD Vierte Welt Schweiz mit dem aussagekräftigen Titel „Beziehungen zwischen Institutionen, Gesellschaft und Menschen in Armut in der Schweiz: eine Gewalterfahrung, die weitergeht“.

In dieser neuen Auflage werden 20 falsche Vorstellungen über die Armut vorgestellt, beschrieben und widerlegt.

Das Ziel dieser Publikation ist es, zu zeigen, dass die Bekämpfung von Armut und institutioneller Gewalt ein und derselbe Kampf ist und damit jeder Person Argumente zu liefern, diesbezügliche negativen Klischees zu widerlegen, dieleider auf empörende Weise Teil unseres Alltags sind.

Dazu Beispiele aus den 20 falschen Vorstellungen, die in dieser Neuauflage von 2025 thematisiert werden: „Arme tun alles, um Sozialhilfe zu bekommen“; „Die Arbeitslosenunterstützung muss eingeschränkt werden, um die Menschen zum Arbeiten zu motivieren“; „Arme sind Betrüger, man muss sie überwachen“; „Soziale Vielfalt schadet dem Schulerfolg“ oder auch „Gerechtigkeit ist für alle gleich.“

Und hier nun zwei leicht angepasste Ausschnitte aus diesem kleinen Band, der mit Karikaturen aus der Presse illustriert ist – darunter auch jene von Geluck.

Falsch: Um ein kleines Budget zu verwalten, um die Familie zu ernähren, Rechnungen zu bezahlen, für schlechte Zeiten vorzusorgen, Hilfe zu beantragen usw., braucht man eine beträchtliche Menge an Fähigkeiten. Der Soziologe Denis Colombi2 erklärt, dass die am meisten Benachteiligten ihr Budget mit rationalen, verständlichen und genau reflektierten Strategien verwalten. Das hat nichts zu tun mit Unfähigkeit zur Selbstkontrolle. Sie sind vielmehr eine Antwort auf die Herausforderungen, denen man als von Armut Betroffene ausgesetzt ist. Die Ressourcen der Ärmsten zu kontrollieren, zu überwachen und sie der Verschwendung zu verdächtigen – all diese Verzerrungen führen zur Auffassung, dass Bedürftigkeit nicht von der Gesellschaft, sondern von den Betroffenen selbst verursacht wird. Das jedoch hat zur Folge, dass Armut eine Funktion erhält, die darin besteht, den Reichtum anderer und die Ungleichheit moralisch zu rechtfertigen.

Falsch: Die meisten Eltern in prekären Verhältnissen tun das Beste für ihre Kinder – Eltern müssen unterstützt und Kinder sollen nicht fremd platziert werden. Um das Schicksal von Kindern in Armut nachhaltig zu verbessern, müssen die prekären Arbeitsverhältnisse, die Arbeitslosigkeit, die niedrigen Löhne und die Teilzeitbeschäftigung der Eltern (insbesondere der Mütter) bekämpft werden. Von Prekarität betroffene Eltern werden von vornherein beschuldigt, eine Gefährdung für ihre Kinder darzustellen und unfähig zu sein. Was sie jedoch verlangen, ist „Unterstützung und nicht, dass man uns unsere Pflichten als Eltern entzieht“. In mehreren Ländern (u. a. in Neuseeland seit etwa 40 Jahren) hat man erfolgreich eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Eltern und Sozialdiensten erprobt und Betreuungsmassnahmen entwickelt, die versuchen, eine systemische Fremdplatzierung zu verhindern.

Inspiriert von diesem Büchlein werden wir im Rahmen des Dialog-Projekts, das ATD Vierte Welt in Kooperation mit Migros-Kulturprozent durchführt (s. Informationen Vierte Welt von Dez. 2024), eine ähnliche Publikation für die Schweiz erarbeiten, in der es vor allem um Vorurteile und um falsche Vorstellungen über ein Leben in Armut in der Schweiz gehen wird.

Perry Proellochs, nationale Delelgation

Übersetzung von Susanne Privitera

1 En finir avec les idées fausses sur la pauvreté. Maltraitance institutionnelle, Éditions Quart Monde, Éditions de l’Atelier, 2025. Die in diesem Buch enthaltenen Fehlannahmen werden dekonstruiert, wobei insbesondere Daten (Gesetze, Statistiken usw.) aus Frankreich herangezogen werden. Die Argumente, die sich auf diese Daten stützen, sind jedoch voll und ganz auf den Schweizer Kontext übertragbar.

2 Denis Colombi, Où va l’argent des pauvres. Fantasmes politiques, réalités sociologiques. Paris, Éditions Payot. 2020.