Fachpersonen aus der Wissenschaft setzen sich ein

Fachpersonen aus der Wissenschaft setzen sich ein – Projekt „Armut, Identität, Gesellschaft (AIG)“

Projekt „Armut, Identität, Gesellschaft (AIG)“

Bild: © HETS-FR.

Die Professorinnen Sophie Guerry und Caroline Reynaud haben am 1st Teaching Innovation Award HES-SO//FR den 1. Preis erhalten für ihr Ausbildungsmodul „Was Klienten der Sozialarbeit uns lehren können, um die berufliche Praxis zu verbessern“. Gegenwärtig nehmen sie am Projekt Armut, Identität, Gesellschaft (AIG)“ (Pauvreté-Identité-Société (PIS)) teil. Am 20. und 21.November haben sie den zweiten Workshop Wissen teilen über Videokonferenz miterlebt.

Sophie G.: Für unser Ausbildungsmodul an der HES-SO//FR, in dem Sozialhilfeempfangende zur Bildung unserer Studierenden beitragen, haben wir uns von der Methode «Wissen verbinden», die von ATD Vierte Welt entwickelt worden ist, inspirieren lassen. Es war eine Chance für uns, als uns Anne-Claire Brand vom Leitungsteam der Bewegung ATD Vierte Welt antrug, am partizipativen Forschungsprojekt AIG teil-zunehmen, das gerade unter dem Aspekt des Wissenverbindens durchgeführt wurde. Es sollte uns diese Methode von innen erleben lassen. 

Caroline R.: Eine unserer Schwierigkeiten in diesem Projekt besteht darin, zu definieren, was für ein Wissen wir von der Wissenschaft her bringen und wie wir uns positionieren können. Was wird von uns erwartet? Wie zum richtigen Zeitpunkt intervenieren? Wie theoretisches Wissen einbringen? Es gilt, zu diskutieren und unsere Positionen zu erklären, ohne uns auf einen   gemeinsamen Wortschatz oder gemeinsame Erfahrungen verlassen zu können. 

Sophie G.: Aus Angst,  „die Gelehrten“ zu geben, indem wir wenig verständliches und von der Realität der Betroffenen abgehobenes Wissen einbringen, ist es für uns manchmal schwierig einzugreifen. Die Methode des Wissenteilens verlangt sorgfältiges Überlegen, bevor wir das Wort ergreifen. Da vieles mit den Vorstellungen auf beiden Seiten zu tun hat, passt man auf, was man hineingibt. Das Aufbauen von gegenseitigem Vertrauen und gemeinsamen Grundlagen verlangt ein langfristiges Engagement. 

Caroline R.: Wissenschaftliches mit Menschen ohne akademischem Hintergrund zu teilen, ist spannend. Es hilft, konkrete Situationen  gemeinsam zu analysieren. 

„Das Projekt AIG ist eine andere Art, Forschung zu betreiben. Wir entwickeln neue Denkweisen, die unsere Gewissheiten hinterfragen.“ 

Caroline R.

Sophie G.: Was mich zudem motiviert, das ist die Begegnung. Ich habe selten Gelegenheit, Personen in prekärer Lage wirklich zu begegnen, nicht  nur bei einem Zeugenbericht. Beziehungen aufzubauen mit diesen Menschen ist von grossem Wert. Zu sehen, wie sich Berufstätige, Forschende und Menschen in Armut in diesem etwas verrückten Projekt einbringen, das entspricht mir, das trägt mich. 

Caroline R.: Eine weitere wichtige Motivation besteht darin, an einem Projekt teilzunehmen, das die Vorgaben auf Landesebene verändern kann. Eine vom Bund finanzierte Forschung zur Generierung von Wissen, das hoffentlich nicht nur im Rahmen individueller Begleitung, sondern auch in der Erarbeitung einer öffentlichen Politik zur Anwendung kommen wird.

„Je mehr man vorankommt, umso mehr möchte man eine Mitwirkung verteidigen, die sich für die Betroffenen lohnt, nicht nur eine Alibi-Übung. Mit dem Projekt AIG machen wir diese Erfahrung, die sehr wertvoll ist.“ 

Sophie G.

Caroline R.: Aber die Methode des Wissenverbindens verlangt Ausbildung, sie lässt sich nicht aus dem Ärmel schütteln. Man kann nicht einfach erklären, dass man Beteiligung will, und der Rest folgt. Manchmal komme ich mit Zweifeln aus einer Sitzung, und das bringt mich zum Nachdenken und fordert mich heraus. Ich lerne viel von der Art, wie armutsbetroffene Menschen unterstützt werden, um ihr Erfahrungswissen in Worte zu fassen. Alles wird gemacht, um Machtergreifungen zu begrenzen und dem Sinn der ausgetauschten Worte treu zu bleiben. Das ist es auch, was ich in diesem Projekt schätze. Es ist wesentlich, um die Art und Weise des Wissensaufbaus zu wandeln.  

Sophie G.: Dieses Projekt gehört zu meiner beruflichen Arbeit, aber ich fühle mich persönlich engagiert. Ich erkläre mit Stolz, dass ich daran teilnehme. Es engagiert uns als Forschende und Lehrende und auch in unserem persönlichen Leben. Eine spannende Herausforderung! Nur schon die Tatsache, dass ein solches Projekt existiert, ist eine wichtige Neuerung, abgesehen von den konkreten Resultaten, die es für die Gesellschaft haben wird. 

Aussagen gesammelt von Hélène Cassignol