Eine Erzählung über drei Generationen

Charlotte Petitat bei ihrer Lesung anlässlich des Erzählbistros, das am 5. September 2024 im nationalen Zentrum in Treyvaux stattfand. © Nida-Errahmen Ajmi / ATD Vierte Welt
Ein einfaches Bühnenbild, vier Stühle und einige Tücher genügen der Schauspielerin Charlotte Petitat um das Publikum in die Lebensrealität einer Familie in der Schweiz zu versetzen, die sich mit den Vorurteilen der Gesellschaft und der Institutionen auseinandersetzen muss.
In Treyvaux, Genf, Bulle und La Chaux-de-Fonds hat diese Künstlerin eine fesselnde, aufwühlende, szenische Lesung gezeigt, die uns damit konfrontiert, was es bedeutet – und das von den sechziger Jahren bis heute – in einem Kanton der Westschweiz in von Armut geprägten Bedingungen zu leben.
Der Bericht beginnt in der Kindheit eines von Fremdplatzierung betroffenen Knaben, betroffen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen (für die sich der Bund 2013 entschuldigt hat). Diese Geschichte beleuchtet mehr als 60 Jahre eines Lebensund begleitet auch den Lebensweg der Kinder und Enkelkinder des erwachsenen Mannes. Er heiratet, gründet eine Familie. Diese findet sich ihrerseits in einer endlosen unheilvollen Verkettung – von Generation zu Generation haftet das Stigma an den Familienmitgliedern, die institutionellen Hürden häufen sich. Sowohl die Tochter und später die Enkelinnen werden in Heime gesteckt. Entmutigung und Verzweiflung sind allgegenwärtig, die Armut ist stets greifbar. Im gesamten Verlauf der Erzählung zeigen die Handlungen der Familienmitglieder, wie sie sich bemühen, Widerstand zu leisten: Das grosse Herz eines Stiefvaters, der Kampfgeist der Frauen, die Solidarität innerhalb der Familie… all das ermöglicht es immer wieder, dem einen oder anderen sich zu behaupten, aber all das genügt nicht. Die Geburt eines dritten Enkelkindes wird für die Familie zu einer Belastung. Die Mutter beginnt zu kämpfen, schliesst sich mit anderen Familien in schwierigen Situationen zusammen, findet Unterstützung bei Vereinen und erhält das Vertrauen bestimmter Institutionen, damit ihr Kind nicht gleich nach der Geburt in ein Heim gebracht wird.
Die Spirale der Fremdplatzierungen brechen
Diese Erzählung wurde von einer jungen Volontärin von ATD Vierte Welt aufgezeichnet. Sie ist sowohl einzigartig als auch repräsentativ für das, was Eltern, die von Armut betroffen sind, noch heute erleben. Sie ist Teil einer kollektiven Initiative – der Baustelle Familien1 –, die von Vätern und Müttern aus der Schweiz und Europa unternommen wurde, um Lösungen zu entwickeln, mit denen die Spirale der Fremdplatzierungen von Generation zu Generation durchbrochen werden kann. Diese Eltern haben in ihrem Leben im Umgang mit den Institutionen Schlüsselmomente hervorgehoben, in denen die Zukunft der Familie auf dem Spiel steht. Sie haben diese analysiert und konkrete Vorschläge gemacht, wie man diese Bedingungen ändern könnte: Dass die Richter bei einer Anhörung zuerst die Eltern zu Wort kommen lassen, dass es möglich ist, von einer Vertrauensperson in eine Einrichtung begleitet zu werden, dass Gruppen von Eltern mit ähnlichen Erfahrungen gebildet werden usw.
Sich fortbilden und austauschen
Manche Eltern waren bereit, sich die Zeit zu nehmen und sich diesen Sommer im nationalen Zentrum von ATD Vierte Welt in Treyvaux weiterzubilden, um Kompetenzen zu entwickeln, um sich Gehör zu verschaffen und im Namen ihres kollektiven Wissens zu sprechen und mit anderen in einen Dialog zu treten. Einige von ihnen waren bei den Lesungen von Charlotte Petitat anwesend. Sie konnten sich in den anschliessenden Diskussionen mit den Teilnehmenden im Saal klar und sachbezogen einbringen, um einige der Ansätze zu Veränderungen zu schildern, die sie in ihrer Arbeit auf schweizerischer und europäischer Ebene ermittelt hatten, wie etwa die Umwandlung von Kinderschutzdiensten in familienunterstützende Dienste.
Véronique Martrou, Verbündete von ATD Vierte Welt
Übersetzung von Susanne Privitera
1. Die Baustelle Familien („Chantier familles“) hat einen Bericht veröffentlicht mit dem Titel „Eine Zukunft ohne Armut für Kinder schaffen: Eltern und Gesellschaft gemeinsam“. Er ist unter www.atd.ch/de/baustelle-familien/ auf Französisch abrufbar.