Dieser Mut beschränkt sich nicht auf einen Ort oder ein Land

Fotoausstellung anlässlich des 17. Oktobers 2021

Ich bin im Februar 2021 im Bulgarien angekommen. Zu diesem Zeitpunkt war ich seit zwei Jahren ständiger Volontär bei ATD Vierte Welt. Mein Engagement ist in der Schweiz verwurzelt, in der Realität der armen Familien, denen ich in dieser Zeit begegnete.

Von aussen gesehen erscheint die Schweiz als reiches Land ohne Armut und mit einer langen demokratischen Tradition. Aber sie hat auch eine verborgene Seite. Heute noch ist nur wenigen Menschen bewusst, dass die schweizerischen Behörden unhinterfragt zwischen 1860 und 1981 tausende Kinder aus armen Familien zwangsweise fremdplatzierten und in Heimen oder Bauernfamilien unterbrachten, wo sie als Arbeitskraft ausgebeutet wurden. Dabei wurden sie meistens auf „dreimal nichts“ reduziert: Deine Eltern sind nichts, du bist nichts und du wirst nie jemand sein. 

Während meinem zweijährigen Einsatz lernte ich den Mut der AktivistInnen von ATD Vierte Welt kennen, die sich im Lauf der 60-jährigen Geschichte der Bewegung in der Schweiz öffentlich geäussert haben. Sie sahen sich dabei oft starken Reaktionen ausgesetzt: „Du lügst, du übertreibst, es ist dein Fehler!“.

Dieser Mut beschränkt sich jedoch nicht auf einen Ort oder ein Land. Durch die Bewegung konnte ich mich schnell in Bulgarien einleben, mich in seine Kultur und Geschichte hineinversetzen. Das Land wurde mehrmals überfallen, und viele Kämpfe haben seine Freiheit und seine Identität geformt. Hier gibt es einen Stolz auf das Bulgarischsein, der sich in den Festen und Traditionen widerspiegelt, die das ganze Jahr über gefeiert werden. Aber wie überall ist die Identität Bulgariens vielfältig und besteht aus vielen verschiedenen Identitäten und Geschichten. Einige werden nach wie vor verachtet und an den Rand gedrängt. Dies gilt für die bulgarischen Roma-Familien und die türkischen Zigeunergemeinschaften, die wir in Sofia und Plovdiv treffen. Dort leben sie in Randbezirken, in die sie aufgrund ihrer Armut und der Vorurteile, denen sie ausgesetzt sind, abgedrängt werden.

Alles kann aus den Fugen geraten

Wir führen Strassenaktionen in Sofia durch. Jede Woche treffen wir uns mit Kindern, die in einem Notzentrum im Stadtteil Lyulin leben. Wir bringen Bücher und Spiele mit, dazu Vorschläge, etwas gemeinsam zu gestalten. Wir lassen uns von aktuellen Ereignissen inspirieren. Zum Muttertag haben wir beispielsweise mit den Kindern Papierblumen gebastelt, die sie nachher verschenkten. Die Aktivitäten richten sich auch nach dem was die eine oder der andere mitbringt. Vor kurzem hat eine Freiwillige vorgeschlagen Hip-Hop einzustudieren.

Mehrere der Familien, die wir treffen, wohnen in diesem Zentrum seit die Baracken, die ihnen als Unterkunft dienten, auf Beschluss der Stadtverwaltung im Jahr 2018 abgerissen wurden. Das Zentrum bietet ihnen keine Perspektive – die Verträge für die Unterbringung müssen alle drei oder sechs Monate erneuert werden. Sie haben dauernd Angst, dass sie weggewiesen werden und auf der Strasse landen. Diese Situation hindert sie sogar daran, ihre Identitätskarte zu erneuern, weil nach bulgarischem Gesetz nur jene Personen Anrecht darauf haben, die einen festen Wohnsitz haben. Auch die Schullaufbahn der Kinder gerät völlig ins Abseits. Ich erinnere mich an einen Vater der alle wichtigen Sachen gepackt hatte, weil er damit rechnete, dass die Familie jederzeit weggewiesen werden kann. Er sagte uns: 

„Ich schicke meine Kinder nicht mehr zur Schule. Die bedrohliche Situation zwingt uns zusammen zu bleiben“. 

Mit anderen Worten: Dieser Vater teilte seine Überzeugung mit uns, dass in einem Augenblick alles aus den Fugen geraten kann. Die Gesellschaft soll sich dieser bedrohlichen Situation bewusst werden, denn gerade sie wirft den Armen oft vor, sie seien unkonstant und instabil. Die Konsequenzen dieser Ängste sind tiefgreifend und dauerhaft.

Ein Workshop zur Bekämpfung von Ausgrenzung

Jede Woche bieten wir ausserdem einen digitalen Workshop an, um gegen die Ausgrenzung zu kämpfen. Die meisten Menschen, die an diesem Workshop teilnehmen, haben seit vielen Jahren keine feste Wohnung oder Arbeit mehr. Einige von ihnen haben lange auf der Strasse gelebt und haben Mühe, einen Platz in der Gesellschaft zu finden, der ein Leben in Würde ermöglicht. Mit ihnen haben wir eine Fotoausstellung anlässlich des letzten 17. Oktobers, dem Welttag zur Überwindung der Armut, zusammengestellt. Die TeilnehmerInnen des Workshops haben darin zum Ausdruck gebracht, was sie in ihrem Leben als Stärke empfinden und was sie solidarisch macht. Die Ausstellung erzählt auch von ihren Schwierigkeiten und den Ungerechtigkeiten, mit denen sie konfrontiert sind.

Jeden Tag nähren die Menschen und Familien, die ich hier treffe, mein Engagement. Und ich hoffe, dass ich es bald mit anderen jungen BulgarInnen teilen kann, die sich dafür entscheiden, die Bewegung ATD Vierte Welt zu entdecken und sich ihr anzuschliessen. Ich glaube fest daran, dass arme Familien – seien sie aus der Schweiz, von Zentralafrika oder von anderswo – sich im eingeschlagenen Lebensweg wiedererkennen würden. Eine Schweizer Aktivistin hat es einmal so formuliert: „Es ist überall das Gleiche. Es kommt nicht darauf an wo man wohnt, wenn man von extremer Armut betroffen ist. Es ist derselbe Schmerz. Man gehört zum gleichen Baum mit denselben Wurzeln“.

Simeon Brand, ständiger Volontär ATD Vierte Welt in Bulgarien

Übersetzung von Theres Bärtschi