Weltbank und IWF interessieren sich für die verborgenen Dimensionen der Armut

ATD und Weltbank

Ereignis an der Weltbank in Washington, der 15. Februar. © Andrés Sanín 

Am 15. Februar trafen sich die ATD Vierte Welt Delegationen von Bolivien, Tansania, Grossbritannien und den Vereinigten Staaten, die an die partizipative Forschung nach der verborgenen Dimensionen der Armut gearbeitet haben, in Washington am Sitz der Weltbank getroffen, um Zeugnis abzulegen von der Dringlichkeit, die Politik zur Bekämpfung der Armut zu überdenken. 

Was wissen Sie über die Armut jenseits der Einkommensprobleme?“ 

Der Ton ist vorgegeben: Maryann Broxton, eine amerikanische Aktivistin von ATD Vierte Welt, steht auf dem Podium und spricht zu den Experten der Weltbank und des IWF (Internationaler Währungsfonds). Maryann Broxton war an der Forschung der verborgenen Dimensionen der Armut beteiligt, die in Zusammenarbeit mit der Universität von Oxford durchgeführt wurde.

Die Politik zur Bekämpfung der Armut wird ohne einen jeglichen Kontakt zu den armen Menschen aufgebaut“, stellt sie fest.

Beiträge von AkademikerInnen, PraktikerInnen und Menschen mit direkter Armutserfahrung ergänzen sich den ganzen Vormittag. Und immer wieder fallen dieselben Worte: Entmenschlichung aufgrund von Armut, Beiträge der Ärmsten, die von der Gesellschaft ignoriert werden, Entmachtung… 

Esther Duflo, Nobelpreisträgerin für Wirtschaft, nimmt an der Konferenz teil. Die Wissenschaftlerin, die per Videokonferenz aus Paris zugeschaltet ist, ist empört: „Die Ungleichheiten in der Welt gehen weiter, weil die Programme zur Armutsbekämpfung die direkt Betroffene nicht berücksichtigen.“ Esther Duflo ist der Ansicht, dass die Bekämpfung der Armut nur durch die Einbeziehung von „Respekt“ (Vermeidung von Strafprogrammen, die die Schwächsten ausschliessen können), „Vertrauen“ (Beendigung der Annahme, dass die Armen Profiteure sind) und „Inklusion“ (Vermeidung des fehlenden Zugangs zu Rechten) in die öffentliche Politik erreicht werden kann – eine direkte Unterstützung für ATD Vierte Welt, deren Kampagne gegen falsche Vorstellungen über die Armen und die Armut sie begrüsst. 

Den Menschen die Rolle von AkteurInnen des Wandels geben 

Die Verantwortung der Weltbank und des IWF wird nicht wegdiskutiert: „Ich bin erstaunt darüber, wie viele Fehler hätten vermieden werden können, wenn die Ärmsten von Anfang an in die Politikgestaltung einbezogen worden wären“, sagt Olivier De Schutter, Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen für extreme Armut und Menschenrechte. „Es ist schwierig und kostspielig, die Menschen direkt einzubeziehen, aber die Vorteile sind enorm.“ 

Für Martin Kalisa, Mitglied der Generaldelegation von ATD Vierte Welt, gibt es keine Zeit mehr zu verlieren. Er fördert die internationalen Finanzinstitutionen auf, deren Ansatz zu ändern.

Um eine wirksame Politik zur Beseitigung der Armut zu entwerfen, brauch man ein solides Fundament, sonst wird es nicht funktionieren, egal wie viel Geld ausgegeben wird.“ Dazu „muss man die Armut in all ihren komplexen und verborgenen Dimensionen messen.“

Martin Kalisa hofft auf ein konkretes Engagement im IWF und in der Weltbank über neue Instrumente (sehe weiter unten). 

Die Direktorin der Abteilung für Strategie, Politik und Evaluierung des IWF stellt abschliessend fest: „Wir stehen vor einer echten Herausforderung, da wir angesichts der verschiedenen Schocks, die vor allem die Ärmsten treffen, keine andere Wahl haben.“ Ein erster konkreter Erfolg: die Weltbank hat ATD Vierte Welt gebeten, für ihre Mitarbeiter, die an Forschungsprojekten beteiligt sind, eine Ausbildung im Bereich Wissen-Kreuzen zu entwickeln. 

Christine Muratet, Kommunikation und Mobilisierung Frankreich

Ein neues Instrument zur Entwicklung und Bewertung der öffentlichen Politik

Im Rahmen der Konferenz in Washington stellten Xavier Godinot, Forschungsleiter bei ATD Vierte Welt, und Olivier De Schutter ein Instrument zur Bewertung politischer Massnahmen vor: IDEEPdeliberatives Instrument für die Entwicklung und Bewertung von Programmen und Massnahmen.“ 

Es soll „die internationale Studie über die verborgenen Dimensionen der Armut, die in Zusammenarbeit mit der Universität Oxford erstellt wurde, in Massnahmen umzusetzen. Die IDEEP soll die bestehenden Instrumente nicht ersetzen, sondern ergänzen.“ Für ATD Vierte Welt müssen politische Massnahmen für die Ärmsten der Armen gemeinsam mit ihnen entwickelt und bewertet werden. „Eine einfache Konsultation der Betroffenen reicht nicht aus“, erklärt Xavier Godinot, „es bedarf eines deliberativen Ansatzes.“

Bei seinem Aufbau stützte sich das Instrument auf die Praxis des Wissen-Kreuzens (Croisement des savoirs), insbesondere in Frankreich, mit einer Arbeit über die Bewertung des Revenu de solidarité active (RSA). Heute soll es „getestet werden; man muss es bekannt machen. Es muss uns ermöglichen, die Forschung zu den verborgenen Dimensionen in konkrete Projekte umzuwandeln.“ Der Ball liegt nun bei den internationalen Finanzinstitutionen, die sich Pilotprojekte ausdenken und dieses neue Instrument zur Überwindung der Armut einsetzen sollen. 

Übersetzung von Lara Hollander

Dieser Artikel erschien ursprünglich in der April 2024-Ausgabe des Journals von ATD Vierte Welt (in Frankreich herausgegeben).