Die Geschichte des Projekts „Armut – Identität – Gesellschaft»

Die Geschichte des Projekts Armut Identität–Gesellschaft mit Logo

Seit 2019 arbeiten WissenschaftlerInnen, SozialarbeiterInnen sowie Menschen mit Armutserfahrung gemeinsam am Forschungsprojekt „Armut – Identität – Gesellschaft“ (AIG). Ziel des Projekts ist es, kollektives Wissen zu erarbeiten, um die Beziehungen zwischen der Gesellschaft, den Institutionen und den von Armut betroffenen Menschen besser zu verstehen. Das Projekt soll zu grundlegenden Veränderungen beitragen, damit sich Ungerechtigkeiten und institutionelle Gewalt nicht mehr von Generation zu Generation wiederholen. Die folgenden Zeilen und das Video, das den Artikel begleitet, zeichnen die Geschichte des AIG nach.

Entschuldigungen des Bundesrates

Am 11. April 2013 entschuldigt sich die Bundesrätin und Justizministerin Simonetta Sommaruga im Namen der Bundesregierung für das grosse Leid, das den Opfern der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen bis 1981 in der Schweiz zugefügt wurde.

Da einige Mitglieder von ATD Vierte Welt diese Zwangsmassnahmen persönlich erlebt haben, wird nach der Entschuldigung des Bundesrates die Arbeitsgruppe „Geschichte erforschen für die Zukunft der Kinder“ gegründet. Zwischen 2014 und 2019 treffen sich rund 15 Personen regelmässig, um sich zu unterstützen, ihre persönliche und kollektive Geschichte zu verstehen und zusammen einen Bericht zu verfassen.

Am 16. September 2017 besucht Frau Sommaruga persönlich das nationale Zentrum von ATD Vierte Welt in Treyvaux. AktivistInnen der Bewegung vertrauen ihr an, dass trotz staatlicher Entschuldigungen und institutioneller und politischer Veränderungen es auch heute noch Menschen gibt, die generationenübergreifende Armut erleben und unter den Beziehungen zu den Institutionen leiden. Berührt von unserer Art, gemeinsam Wege zu suchen, ermutigt sie uns, unseren partizipativen Weg fortzusetzen bei dem Menschen mit Armutserfahrung zur Geschichte des Landes beitragen können. Im Anschluss an dieses Treffen gibt ATD Vierte Welt beim Bundesamt für Justiz das Projekt „Armut – Identität – Gesellschaft“ ein, welches dieses schliesslich anerkannt und mitfinanziert.

Wissenswerkstätten

Zwischen 2019 und 2021 arbeiten 40 Menschen aus der Deutsch- und Westschweiz im Rahmen von nationalen, mehrtägigen „Wissenswerkstätten“ zusammen. So werden unterschiedliche Wissen miteinander gekreuzt: Wissen aus Armutserfahrung; Wissen aus den wissenschaftlichen Bereichen wie des Rechts, der Soziologie, der Geschichte, der Wirtschaft; und Wissen aus unterschiedlichen Bereichen der Berufspraxis wie dem Kinder- und Erwachsenenschutz, Sozialdiensten, der Psychologie oder dem Gesundheitsbereich.

Was unser Projekt von anderen Forschungsarbeiten unterscheidet, ist die Tatsache, dass alle Teilnehmende Co-Forschende sind und in allen Phasen des Projekts zusammenarbeiten: bei der Festlegung des Themas und der Forschungsfrage, bei der Produktion und Analyse der Inhalte und beim gemeinsamen Schreiben der Resultate.

Volksuniversitäten Vierte Welt

Die Volksuniversitäten Vierte Welt spielen dabei eine zentrale Rolle im Projekt: einerseits als nationaler Ort des Dialogs und der gegenseitigen Weiterbildung zwischen Menschen mit Armutserfahrung um ein kollektives Wissen aufbauen können; anderseits um zur Forschungsfrage beizutragen, welche ist: „Was macht es möglich, dass armutsbetroffene Menschen in ihrem täglichen Kampf und insbesondere im Zusammenwirken mit Institutionen als vollwertige Akteure anerkannt und unterstützt werden?“.

Co-Schreiben und Resultate

Im Jahr 2022 werden die wichtigsten Erkenntnisse aus den drei Jahren der Forschung von gemischten Wissens-Gruppen verschriftlicht. Die Synthese, die aus diesem Co-Schreiben Prozess hervorgeht, bildet die Grundlage für den Dialog mit Politik, Hochschulen und Institutionen um gemeinsam über mögliche Veränderungen nachzudenken. Im April 2023 werden die Erkenntnisse aus der Forschungsarbeit inklusive der Überlegungen aus den Dialogen veröffentlicht und an einem öffentlichen Kolloquium vorgestellt.

Michael Zeier, Koordinator ATD Vierte Welt für das Forschungsprojekt „Armut – Identität – Gesellschaft“