Die Ärmsten sind am dramatischsten betroffen

Gemälde erstellt von Gabriela Feldhaus, 2020

Detail eines Gemäldes von Gabriela Feldhaus (2020)

Dem Bundesamt für Statistik zufolge „waren im Jahr 2020 8,5% der Bevölkerung […] von Einkommensarmut betroffen. Dies entspricht rund 722’000 Personen“.¹ Und die wegen der steigenden Preise seit mehreren Monaten währende Krise wird noch Tausende weiterer Personen in die Armut stossen. Es gilt natürlich diese Verschlimmerung der Situation zu bekämpfen, aber ATD Vierte Welt betont, dass es die Ärmsten der Armen sind, die am ärgsten davon betroffen sind. Es ist unerlässlich und dringend, dementsprechend zu handeln.

Die Armut, die unsere Bewegung herausfordert und verpflichtet, wird von Joseph Wresinski mit diesen Worten beschrieben: „Prekarität ist das Fehlen einer oder mehrerer Sicherheiten, insbesondere der Arbeitstelle, die es Einzelpersonen und Familien ermöglichen, ihre beruflichen, familiären und sozialen Verpflichtungen nachzukommen und ihre Grundrechte zu geniessen. Die daraus resultierende Unsicherheit kann mehr oder weniger weitreichend sein und mehr oder weniger schwerwiegende und endgültige Folgen haben. Sie führt zu extremer Armut, wenn sie mehrere Lebensbereiche betrifft, dauerhaft ist und die Chancen beeinträchtigt, in absehbarer Zukunft wieder Verantwortung zu übernehmen und sich seine Rechte selbst zurückzuerobern.“2

In der Schweiz (und anderswo) setzt sich die Armut fort von Generation zu Generation. 

Wir müssen uns weiterhin mit jenen Menschen einsetzen, die seit jeher arm sind, die stets systematisch vergessen, diskriminiert und verstossen werden. 

Und wir müssen dafür sorgen, sowohl von diesen diskriminierten und ausgeschlossenen Personen als auch von den Institutionen und der Politik, ja von der ganzen Gesellschaft, gehört zu werden.

Von ihren Erfahrungen und ihrem Wissen lernen

Alain Meylan, ATD Vierte Welt Aktivist, betont, dass „Wir, die schon seit langem arm sind, wissen, wie wir mit Krisen umgehen und uns anpassen können. Ich meine, es ist wichtig, dass man uns die Möglichkeit gibt, unsere Erfahrung und unser Wissen zu teilen, dass man uns endlich anhört. Man wird die grosse Armut nicht überwinden, ohne uns ernsthaft einzubeziehen, als vollwertige Partner. Veränderung geschieht auf diesem Weg – auch wenn es Zeit braucht. Und kurzfristig wäre es auch nützlich für viele Menschen, die zu den neuen Armen gehören und nicht unbedingt über die Mittel verfügen, sich ihrer neuen Situation zu stellen.

Studien wie Die verborgenen Dimensionen der Armut und die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Armut – Identität – Gesellschaft3 weisen eindeutig in diese Richtung und zeigen, dass dieser Wandel eine radikale Veränderung in der Art und Weise erfordert, wie die Gesellschaft, die Insitutionen und der Staat die von Armut betroffenen Menschen betrachten und behandeln.

Das Begleitteam der nationalen Koordination von ATD Vierte Welt Schweiz

Übersetzung von Johanna Stadelmann

  1. www.bfs.admin.ch, unter „Armut“.
  2. Diese Definition aus dem Jahr 1987 wurde unter anderem von den Vereinten Nationen übernommen, insbesondere in der Arbeit der Menschenrechtskommission und des Menschenrechtsrats zum Thema Menschenrechte und extreme Armut.
  3. Die Erkenntnisse und konkreten Vorschläge dieser Forschung werden veröffentlicht und der breiten Bevölkerung in einem Kolloquium am 9. Mai 2023 im Theatersaal National in Bern vorgestellt.