Der Wahrheit der Märchen auf der Spur

Der Wahrheit der Märchen auf der Spur

Es war am 7. Mai in der kleinen Genfer Stadt Plan-les-Ouates. Die Geschichtenerzählerin Gigi Bigot sprach von der Kraft der Märchen und weshalb sie ihre Suche auch mit ATD Vierte Welt in Verbindung brachte. Hier gibt Noldi Christen ein persönliches Echo dieses Abends.

Vielleicht berührt mich die wunderbare Arbeit von Gigi deshalb so sehr, weil ich als Kind am Radio immer wieder gebannt der grossen Märchenerzählerin Trudi Gerster lauschte. Später, in den Strassenbibliotheken von ATD Vierte Welt, konnte ich dann erleben, wie Kinder in grosser Armut immer wieder dieselben Geschichten hören wollten, weil sie genau spürten, welche ihnen gut taten.

Gigi sagt, in allen Erzählungen dieser Welt sei letztlich die Frage verborgen: Was wird aus mir, wie kann ich an den Hindernissen wachsen und in dieser Welt meinen Weg finden?

Seit ihrer Pensionierung arbeitet sie bei ATD Vierte Welt in Rennes (F), auch mit Erwachsenen. In ihrem Workshop, dem „Quartier de Lune“, erfinden sie Geschichten. Eine Teilnehmerin erzählt, wie sehr ihnen das geholfen hat, grosse Lebenswunden zu heilen. Ihre Lebenserfahrungen möchten sie aber auch anderen Menschen näher bringen, sie berühren… jedoch ohne Schuldgefühle auszulösen.

Gigi sagt, die „Lügen“ in den Märchen und Erzählungen dieser Welt seien sehr wichtig, denn sie ermöglichten es, die Wahrheit tiefer zu erfassen. Auch Picasso habe das für die Kunst gesagt, und Drewermann für das spirituelle Suchen. Picasso habe gesagt, natürlich sei da „ein Durcheinander“ in seinen Bildern, genau so wie in der Welt. Und das Bild Guernica wurde ja auch gerade deshalb zu einer so wichtigen Ikone für das 20. Jahrhundert.

In einer Erzählung aus dem „Quartier de Lune“ wird eine arme, verzweifelte Familie in einem Rathaus nicht verstanden und dann auch noch abgekanzelt. Als alle darauf mit hängenden Köpfen herauskommen, da lassen auch die wunderbaren Tulpen vor dem Rathaus ihre Köpfe hängen.

Blumen, Steine, ein Stück Holz werden in den Erzählungen aller Kulturen immer wieder zum Verbündeten der Suchenden; sie können sprechen und reden ihnen Mut zu. Auch heute vertrauen Kinder ihre Not gern einer Puppe, einem Stofftier oder einem Glücksbringerstein an.

Gigi sagt, sie wolle mit ihrer Arbeit letztlich die Frage nach dem Platz der ganz Kleinen auf dieser Welt beleuchten. Das Faszinierende in den Märchen der Völker sei ja, dass sie die Kleinsten, Schwächsten und so leicht Unterschätzten, jene, die am wenigsten gelten, immer wieder neu ins Zentrum stellen, und sie den Mächtigen der Welt, und oft auch allerlei bösen Mächten, die Stirn bieten lassen.

Gigi Bigot hat ihre Erfahrungen auch in einem Buch beschrieben, das wir Ihnen bes-tens empfehlen möchten. (Marchande d’Etoiles – nur auf französisch).

Noldi Christen

Marchande d’étoiles.– GIGI BIGOT, 2018Ed. Quart Monde et La Grande Oreille, 270 p. CHF 18.- (+Port)