Begrüssung zum Kolloquium

Anne-Claire Brand

Anne-Claire Brand begrüsst die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kolloquiums „Endlosschlaufe Armut: welche Verantwortung für unsere Gesellschaft? am 9. Mai 2023 in Bern.

Das Kolloquium „Endlosschlaufe Armut: welche Verantwortung für unsere Gesellschaft?“ begann mit der Begrüssung und Einführung von Anne-Claire Brand an die TeilnehmerInnen der Tagung, die unter anderem zum Ziel hatte, die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Armut – Identität – Gesellschaft“, das ATD Vierte Welt von 2019 bis 2023 durchgeführt hat, zu teilen. 

Sehr geehrte Frau Bundesrätin, sehr geehrte Teilnehmerinnen und Teilnehmer!

Unser Kolloquium ist Ausdruck einer grossen Kraft, die von Ihnen allen, die Sie heute hier zusammengekommen sind, ausgeht, von so unterschiedlichen Realitäten und Engagements. Eine Kraft, die auch von einer Linie von Frauen und Männern ausgeht, die im Laufe der Zeit das „Nie wieder“ getragen haben, das vor zehn Jahren von unserer Regierung aufgegriffen und bekräftigt wurde. 

Mut und Engagement

Eine Linie von Frauen und Männern, denen die Ungerechtigkeiten und die Gewalt der Armut das Schweigen auferlegt hatten. Auch ihr, die Aktivistinnen und Aktivisten der Bewegung ATD Vierte Welt, gehört dieser Linie an, die in den Jahren der glorreichen 30er, in denen die Armut nicht ausgesprochen werden konnte, die Aufgabe übernahmen, ein Buch zu schreiben: Schweizer ohne Namen. Aus Angst zerrissen einige das Geschriebene: „Wer wird uns glauben?“. Ihr Mut und ihr fast heimlicher Widerstand tragen wir heute in uns, ebenso wie das Engagement anderer an ihrer Seite, die sich solidarisch zeigten und diese Ungerechtigkeiten nie akzeptierten.

Diese Frauen und Männer haben uns mit der Verantwortung betraut, Licht in die Realität eines Landes zu bringen, in dem die Armut von Generation zu Generation trotz der zahlreichen Institutionen und Massnahmen fortbesteht. Daher der Titel unseres Kolloquiums: „Endlosschlaufe Armut: welche Verantwortung für unsere Gesellschaft?“. Das Forschungsprojekt „Armut – Identität – Gesellschaft“ hat diesen Kompass nicht aus den Augen verloren, um die anhaltende Armut, diese systemische Armut, zu erkennen, zu verstehen und anerkennen zu lassen, um ihr auf den Grund zu gehen und daraus Schlüsse zu ziehen für Veränderungen, die zum Nutzen aller sind.Auch für diejenigen, die heute neu von Armut betroffen sind, aufgrund von prekären Arbeitsverhältnissen oder Nichtbeschäftigung, Einwanderung, Exil, Trennung, und die, sofern es keine Solidarität gibt, mit den gleichen Dysfunktionalitäten unserer Institutionen und unserer Gesellschaft konfrontiert sind.

Welche Fortschritte gibt es heute? 

Die Entschuldigung der Regierung im Jahr 2013 war ein Zeichen der Anerkennung und Hoffnung, indem sie sagte: „Sie sind in keiner Weise schuldig“. Aber wie können wir sicherstellen, dass Menschen, die von Armut betroffen sind, nicht nur von Schuldigen zu anerkannten Opfern werden? Denn die wahre Wiedergutmachung, zu der diese Menschen uns auffordern, ist die, nicht mehr namenlos zu sein! Einen Namen zu haben, eine Identität als Akteurinnen und Akteure, die sich für Veränderungen einsetzen, damit diese Ungerechtigkeiten und Gewalt aufhören, Teil der im Land durchgeführten Untersuchungen zu diesen Ungerechtigkeiten zu sein, Teil der Vorschläge für neue Gesetze und neue Praktiken zu sein.

Dies wurde durch das Engagement der zahlreichen Co-Forscherinnen und Co-Forscher dieses Projekts ermöglicht, die ebenfalls in diesem Saal versammelt sind und mehrere Jahre lang gemeinsam unterwegs waren.

Gemeinsam mit anderen zu denken, zu analysieren, vorzuschlagen und zu handeln ist möglich, wenn man die dafür notwendigen Bedingungen schafft. Joseph Wresinski, Gründer und Generalsekretär der Bewegung ATD Vierte Welt, äusserte 1983 vor der Akademie für Moral- und Politikwissenschaften in Paris: „Die Ärmsten machen sich nur in dem Masse bekannt, in dem sie darauf vertrauen, dass das, was sie über sich selbst offenbaren, das Handeln ihrer Gesprächspartner nachhaltig verändert. Sie können nicht auf eine Rolle als Informanten für die Gedanken anderer reduziert werden“. Und er fährt fort: „Ihr Denken kann sich nicht ausdrücken, ohne dass solidarische Gruppen mit ihnen zusammen eine gemeinsame Sprache schaffen, indem sie ihre eigenen Denkmittel teilen und neue Mittel erfinden“.

Was für eine enorme Chance, sich von solchen Wegen ergreifen und mitreissen zu lassen, welche zum grossen Teil von solchen solidarischen Gruppen eröffnet werden, von denen Wresinski spricht und die sich heute und in Zukunft den Menschen anschliessen, die aufgrund ihrer Armut am meisten isoliert und missachtet werden, um mit ihnen ein Vertrauen aufzubauen, das Innovation in der Forschung und im Handeln ermöglicht.

Frau Bundesrätin, Sie können weiterhin auf uns zählen, wenn es darum geht, gemeinsam Verantwortung zu übernehmen. Die Zukunft der Kinder in unserem Land hängt davon ab. Es ist eine enorme Ermutigung, dass Sie unter uns sind, um dieses Kolloquium zu eröffnen. Wir danken Ihnen dafür.

Anne-Claire Brand, Mitglied der nationalen Koordination von ATD Viert Welt und Mitglied der Steuergruppe des Forschungsprojekts „Armut – Identität – Gesellschaft“