Baustelle Familien
Treffen der Baustelle „Familien“ in Pierrelaye (Frankreich) im Juli 2023. © Carmen Martos / ATD Vierte Welt
Mit von Armut betroffenen Menschen aus sieben europäischen Ländern hat ATD Vierte Welt drei Jahre lang unter dem Titel „Baustelle Familien“ Überlegungen angestellt, um die Beziehungen zu den Fachstellen für Kinderschutz zu verbessern und den Eltern die Unterstützung zukommen zu lassen, die sie benötigen. Sechs junge Eltern aus der Westschweiz nahmen an den abschliessenden Schritten dieses Projekts teil, dessen Ergebnisse am 20. November 2023, dem Internationalen Tag der Kinderrechte, in Pierrelaye (Frankreich) veröffentlicht wurden.
Diese Ergebnisse dieses Projekts sowie die Schritte und Untersuchungen, die dazu geführt haben, sind in dem Bericht „Eine Zukunft ohne Armut für Kinder schaffen: Eltern und Gesellschaft gemeinsam“ zusammengefasst („Bâtir un avenir sans pauvreté pour les enfants: parents et société ensemble“ – nur auf Französisch verfügbar.)
Arbeit mit Erfahrungsberichten
Im Laufe des Jahres 2023 verfassten sechs Gruppen von ATD-Vierte-Welt-AktivistInnen aus Grossbritannien, Polen, Belgien, Frankreich und der Schweiz jeweils einen Erfahrungsbericht, der die Situation von Familien mit Armutserfahrung in ihrem jeweiligen Land widerspiegelte. Diese Erzählungen wurden dann nach verschiedenen Themenbereichen aufgeteilt und analysiert – z.B. nicht anerkannte Beiträge und Kompetenzen der Eltern, institutionelle Misshandlung, Entzug der Handlungsmacht1. Die Schweizer Gruppe befasste sich mit dem französischen Bericht, und vice versa. Schliesslich trafen sich die sechs Gruppen im Juni, um ihre Analysen auszutauschen – in Zusammenarbeit mit Akademikern, die selbst einen wissenschaftlichen Blick auf die jeweiligen Erzählungen geworfen hatten. Das Hauptziel bestand darin, die Ursachen und Folgen der in den Berichten beschriebenen Situationen zu verstehen.
Die AktivistInnen der Schweizer Gruppe fügten den oben genannten Themen die Enteignung von Emotionen hinzu. Eltern, die von Armut betroffen sind, haben nicht das Recht, ihre Gefühle gegenüber den Institutionen sichtbar zu machen: „Was ich schlimm finde, ist, dass wir unsere Gefühle nicht zeigen dürfen. Es ist verboten. Das ist nicht gut, aber was man vergisst, ist, dass wir Menschen sind.“
Die TeilnehmerInnen der Baustelle „Familien“ versammeln sich am 20. November 2023 in Pierrelaye (Frankreich). © Carmen Martos / ATD Vierte Welt
Ansätze für Veränderungen
Die Ergebnisse des Projekts „Baustelle Familien“ wurden am Internationalen Tag der Kinderrechte veröffentlicht. Dieses Ereignis wurde in Zusammenarbeit mit „Eltern/AktivistInnen“ (auch drei Mütter aus der Schweiz) vorbereitet, die in verschiedenen Bereichen an zwei grossen Themen gearbeitet haben: das Verstecken von Armut und das Kinderschutz-Recht. Das französisch-schweizerische Binom, das sich insbesondere mit der Beziehung zu den Institutionen und dem Zusammentreffen unterschiedlicher Ansichten befasste, schlug mehrere Ansätze für Veränderungen vor:
- Eine Änderung der Namen von Institutionen, die mit Kinderschutz zu tun haben: „Wenn man von Kinderschutz spricht, bedeutet das in den Köpfen vieler Menschen, dass die Eltern eine Gefahr für das Kind sind und dass man das Kind vor seinen Eltern schützen muss. Das setzt uns in dem Sinne herab, dass wir hören, „Ihr seid nicht fähig, wir werden die Dinge an eurer Stelle erledigen.“ Wir bitten jedoch um Unterstützung und nicht darum, dass man etwas an unserer Stelle tut. Wir fordern, den Dienst als Dienst zur Unterstützung der Familie, d. h. der Kinder und der Eltern, zu bezeichnen.“
- Die Notwendigkeit eines Gegengewichtes zu den Institutionen: „Die Institutionen haben viel Macht über unser Leben, und wir haben keine Macht gegenüber den Institutionen. Ausserdem werden die Fachkräfte in vielen Situationen von ihren Vorgesetzten gedeckt, während die Eltern und Kinder niemanden haben, der sie unterstützt.“
- Das Recht, während der Anhörung von einer Vertrauensperson begleitet zu werden.
- Das Recht, alle Schriftstücke, die dem Richter oder der Richterin übermittelt werden, zu Hause zu erhalten, damit sich die Familien auf die Anhörung vorbereiten können.
- Das Recht auf Vergessen: bei einem Schutzverfahren für ein Kind sollten Unterlagen, die während der Kindheit der Eltern und anderer Familienmitglieder erstellt wurden, nicht mehr berücksichtigt werden.
- Der Bericht „Die verborgenen Dimensionen der Armut“ beschreibt diese Themen (und andere) ausführlich. Mehr dazu unter www.atd.ch/de/publikationen.
Marina Arcos Arjona, ständige Volontärin ATD Vierte Welt Genf