Autorin und ATD Vierte Welt Volontärin
© Caroline Petitat-Robet
Caroline Petitat-Robet arbeitet seit 1979 als ständige Volontärin für ATD Vierte Welt. Ihr drittes Buch, Vers l’autre, ist im Frühling 2022 erschienen. Es ist den zahlreichen Begegnungen gewidmet, die ihre Wahrnehmung der Armut veränderten und sie dazu bewegten, die Realität der Menschen, die damit konfrontiert sind zu erzählen.
„Im Leiden meines Vaters habe ich die Quelle meines Engagements entdeckt.“ In ihrem Haus, in der Schweiz, bewahrt die 70-jährige unzählige Hefte auf. Darin hat sie seit Anfang ihres Einsatzes Erlebnisse und Begegnungen festgehalten, gelegentlich ergänzt durch Zitate von Autoren, die sie schätzt. Geschrieben hat sie schon immer gern. Es wird jedoch zum Bedürfnis als sie in den Jahren 2000 den Tod ihres Vaters verkraften muss.
Als gelernte Dokumentarin arbeitete sie zuerst einige Jahren beim Internationalen Arbeitsamt in Genf, dann beim Nationalen Zentrum für pädagogische Dokumentation (CNDP) in Paris. Parallel dazu engagierte sie sich bereits 1975 bei ATD Vierte Welt als Verbündete, ab 1979 als ständige Volontärin. „Bei ATD wird viel geschrieben. Joseph Wresinski, der Gründer der Bewegung, verpflichtete uns dazu, über jedes Treffen schriftlich zu berichten, um sicherzustellen, dass wir unseren GesprächspartnerInnen genau zuhörten und sie ohne Vorurteil betrachteten.
So haben wir gelernt, nicht nur zu schauen, sondern zu sehen − trotz der Scheuklappen, die wir alle haben.“
Caroline ist in Rennes grossgeworden, in einem sozial privilegierten Milieu. Bald fühlte sie sich darin nicht mehr wohl. „Das Umfeld hinderte mich daran, die Realität der Vierten Welt zu sehen. Man hat den Armen zwar geholfen, aber ohne sie je anzusehen. Da stimmte für mich etwas nicht.“ Als sie dann jeden Mittwoch in Créteil, einem Vorort von Paris, die Strassenbibliothek betreut, erfährt sie aus erster Hand wie sich Familien, die in grosser Armut leben, durchschlagen müssen. „In Rennes hatte ich von dieser, auch dort vorhandenen Realität nichts gesehen. In einem Viertel nicht weit von unserem Haus lebten Leute in Baracken. Meine Eltern sorgen dafür, dass ich nie dorthin ging.“
Schreiben, eine Notwendigkeit
Diese erste Wahrnehmung von Menschen, die anders leben, beschreibt sie in ihrem ersten, 2008 erschienen Buch Aube-épine [Morgenrot-Dorn]. Auch auf die Trauer um ihren sieben Jahre zuvor verstorbenen Vater und dessen Depressionen geht sie ein:
„Dass er krank war, empfand ich es als ungerecht. Dieses Gefühl der Ungerechtigkeit war den Auslöser meines Engagements“.
Mit Aube-épine wird ihr klar, dass Schreiben mehr als eine Neigung ist: Es ist ein Bedürfnis.
Als Volontärin ist sie von 1987 bis 1994 im ATD-Zentrum in Treyvaux für die Verbündeten in der Schweiz verantwortlich. Anschliessend organisiert sie in Baillet-en-France das Archiv von Joseph Wresinski.
2006 kehrt Caroline nach Rennes zurück. Sie setzt sich weiterhin als ständige Volontärin ein und arbeitet an einem neuen Buch: „Es gelang mir endlich, mein Engagement und meine Gefühle gegenüber meiner Heimatstadt, die sich sehr verändert hatte, in Einklang zu bringen.“ Die Arbeit an diesem Buch musste sie 2013 abbrechen: „Mein Sohn wurde schwer krank, er brauchte mich an seiner Seite. Kurz nach seinem Tod hat mich eine Freundin, Nathalie, überzeugt, wieder zu schreiben.“ Es entsteht ein neues Werk: ein Dialog zwischen einer Mutter und ihr sterbenden Sohn. Ergreifend und voller Hoffnung. Le fils rompu. Récit d’une mère erscheint 2017.
Die Kraft der Begegnung
Caroline ist heute pensioniert. Sie engagiert sich jedoch weiterhin mit ATD, zusammen mit ihrem Mann.
„Vierzig Jahre an der Seite der ärmsten Menschen haben mich in der Überzeugung bestärkt, dass man nur dann weiterkommt, wenn man den Anderen anerkennt und seine Würde respektiert.
Die höchsten Hürden, die tiefsten Brüche zwischen den Menschen sind angst bedingt: Angst vor dem Anderen, vor dem Unbekannten.“ Ihr Engagement mit Menschen in grosser Armut hat es ihr erlaubt, die mit ihrer Herkunft verbundenen Schuldgefühle zu überwinden.
Nach der Veröffentlichung ihres zweiten Buches nimmt Caroline das in Rennes angefangene Manuskript wieder auf. Anhand der Geschichte von Yannik, einen Mann am Rande der Gesellschaft, beleuchtet sie die Wichtigkeit jeder einzelnen Begegnung, und die positiven Veränderungen, die sie bewirken kann. Der Titel allein sagt alles: Vers l’autre – [Zum Anderen].
Gleichzeitig interessiert sie sich für Philosophie. „Martin Buber, Emmanuel Levinas und Simone Weil haben viel über Begegnungen geschrieben. Sie haben mir geholfen, meine Überlegungen zu erweitern und zu vertiefen.“
Zu ihrem dritten Buch sagt Caroline: „Es zieht Fäden zwischen meiner Jugend und meiner vierzigjährigen Arbeit als ständige Volontärin und bringt eine innere Stimimigkeit zum Vorschein. Ich hoffe damit einem breiten Publikum näher zu bringen, wie wertvoll und bereichernd es sei kann, Menschen, die ein anderen Lebensweg haben zu begegnen.“
Nach dem Artikel von Justine Le Pourhiet, der auf der Website von ATD Vierte Welt Frankreich verfügbar ist.
Übersetzung von Madeleine Viviani
Caroline Petitat-Robet, Vers l’autre, 280 Seiten, Verlag Torticolis et Frères, CHF 15.-. Erhältlich in unserem Online-Shop (nur auf Französisch).